Heidjer

Mona, Susa und Will tollen den Heideweg hinunter.

Bis ins Dorf sind es drei Kilometer.

Es regnet in Strömen. Aber warm ist es in diesen Ferien, sehr warm.

Einkaufen sollen sie dort, für ihre Eltern, die immer irgend etwas am Milch- oder Bäckerwagen, der nur alle drei Tage den Weg zum Land hochfährt, vergessen haben.

Sie kennen die Waldwege wie ihre Westentasche. Viele Male sind sie hier mit ihren Vätern gewandert. 

Jetzt haben die beiden Cousinen schon die kleine Anhöhe vor den ersten Häusern des Dorfes erreicht.

Will trödelt mal wieder hinter seiner Schwester Susa und seiner Cousine hinterher.

Er ist oft in Gedanken versunken, ein verschlossener Junge, der meistens mit der Nase in einem Buch steckt, und dann auch nicht ansprechbar ist.

„ Komm schon Will, wir müssen zum Mittagessen wieder oben sein!“, ruft Mona. Wie immer reagiert er nicht.

Die Mädchen laufen vor, und besorgen bei Lorenz Mehl Zucker und Eier, es soll Bickbeerpfannkuchen geben. Das Lieblingsessen der Kinder.

Auf dem Rückweg treffen sie Will bei der Anhöhe wieder. Er hockt auf dem Boden, und quält mit dem Stock einen kleinen Mistkäfer, drückt ihn nieder, bis er in zwei Teilen auf dem Boden liegt.

Die beiden Mädchen ekeln sich. Tierquäler schimpfen sie ihn, und rufen;

„Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt genau wie Du den Schmerz!“

Will grinst. 

„ Der Geotrupidea tut keiner Fliege mehr was zu Leide!“ höhnt er.

Dann meint Will: „ Heute gehen wir mal einen anderen Weg!“

Susa und Mona schauen ihn fragend an, folgen ihm aber an der Weggabelung, weil sie Angst haben, den Waldweg zum Land allein hoch zu gehen.

„ Wir gehen durch die Höllenschlucht zu den Dreimännerkiefern, das ist nur ein kleiner Umweg“, meint Will.

„ Kleiner Umweg“, denkt Mona,“ im Übertreiben war er schon immer gut, es ist genau so weit wie zum Land, nur in eine andere Richtung.

Nach einer halben Stunde kommen sie in der Schlucht an.

Petra klammert sich plötzlich weinend an Monas Hand.

Will befiehlt Mona bei den Kiefern zu warten, reißt seine Schwester von ihrer Hand los, und verschwindet mit ihr in der Schlucht.

Plötzlich ist alles still um Mona herum. Viel zu still.

Nur das Hämmern eines Spechts ist zu hören.

Da! Ein leises Wimmern!

Mona bekommt es mit der Angst zu tun. Sie überlegt.

Ihre Cousine hier mit dem Bruder alleine lassen und Hilfe holen?

Nein, niemals.

Vorsichtig folgt sie den beiden in die Schlucht. 

Ihre Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. 

Langsam tastet sie sich voran. 

Dann entdeckt sie die beiden. 

Was sie hier sieht, mag sie nicht glauben.

Sie stürzt sich mit voller Wucht auf ihren Cousin, und versucht ihn von Susa weg zu ziehen.

Verdattert steht Will auf.

„ Wenn Du ein Wort den Eltern erzählst, dann ergeht es Dir wie dem Geotrupidea!“, schreit er, und rennt weg.

Mona hilft ihrer Cousine auf, nimmt sie wieder an die Hand.

Von seinen Drohungen würde sie sich nicht beindrucken lassen, denkt sie.

Auf dem Land angekommen, vertraut sich Mona sofort ihrem Papa an.

Susa wird in der Zinkwanne von oben bis unter abgeseift, in ein großes Handtuch gehüllt, und ins Bett gesteckt.

Heute Nacht schlafen die Kinder nicht wie sonst alle in einem Bett.

( © Monika Zelle 25.10.2020 )

Meine Birke

Zum ersten Mal begegnete ich Dir auf meiner täglichen Walkingstrecke in den Wallanlagen, sah Deinen schlanken, schneeweißen Stamm.

Es war Liebe auf den ersten Blick.

Ich spürte das Verlangen, auf Deinen starken Armen hinaufzuklettern, um in Deiner Krone die zierlichen Blätter an den Ästen zu berühren, aber ich wollte Dich nicht mit dem Gewicht meiner schweren Gedanken belasten.

Nun…..da bist Du ja wieder, meine Schöne.

Gedankenverloren lehne ich mich an ihren Stamm, schaue hinauf durch ihre Äste, die sich leicht im Wind wiegen.

Heute höre ich das Rascheln der kleinen Blätter, es ist still in der Stadt, so still wie noch nie.  

Wie ausgestorben. 

Noch ist er grün, Dein Kopfschmuck, aber bald wird er sich gelb und braun verfärben, Deine Äste verlassen, auf den Boden säuseln, und achtlos von den Fußgängern unter ihren Füßen begraben.

Ich lehne mich mit meinem Rücken an Deinen sonnenbeschienenen Stamm, und spüre die Wärme in mir. 

„ Was sagst Du? Ich bin lange nicht da gewesen?“

„ Ja, das stimmt, ich traue mich manchmal nicht, einen längeren Spaziergang zu machen, aus Angst, ich könnte mich mit Corona anstecken!“

„ Du weißt nicht was das ist, meine Schöne?“ 

Das ist eine Pandemie, an der ich sterben könnte. Das Virus Covid 19 ist aus Wuhan in die Welt gestreut worden, wie Deine Blätter, die vom Sturm manchmal weit hinaus getragen werden, oder Deine Samen, die sich verbreiten, so dass wieder kleine Birkenkinder entstehen, mit dem Unterschied, dass aus dem Virus kein Leben entsteht, sondern er mörderisch sein kann.

„ Ich soll nicht sterben? 

So wie die Frauen und Männer auf den Gedenktafeln gegenüber, die im Nationalsozialismus auf dem Innenhof des Untersuchungsgefängnisses als Widerstandskämpfer und Kämpferinnen geköpft wurden? 

Ich schaue hinüber. 

Es hat sich etwas verändert.

Eine kleine Vase wurde an der Mauer unter den Gedenktafeln angebracht. Es sind aber gar keine Blumen darin.

„ Nein, keine Sorge, meine Schöne, ich werde mich schon nicht anstecken!“

Ich trage immer brav meine Maske. Sei froh, dass Du so etwas nicht tragen musst, Du würdest oft keine Luft zum Atmen haben.

Ich werde zwar nicht so alt werden wie Du, aber ein bisschen wirst Du meine Anwesenheit noch aushalten müssen auf dieser Erde.

Ich drehe mich um, und schlinge meine Arme um den weißen Stamm.

Ob sie wohl zugeschaut hat, als die Greueltaten in diesem Hof passierten, oder waren die Mauern noch höher, als sie eine zarte junge Birke war? 

Ja, Mauern müssen sein, damit niemand sieht, was hinter ihnen passiert, so wie die Mauern in den Köpfen der Menschen, die hier achtlos vorüber gehen.

Bäume können ja nicht sprechen.

Oder doch? 

Meine Birke kann sprechen.

Sie flüstert mir zu, ich solle sie nicht wieder so lange alleine lassen.

Sie bräuchte meine Wärme und Nähe, sonst fühle sie sich so einsam.

Ich drücke sie noch einmal ganz fest an mich, und verspreche, ganz bald wieder zu kommen, und Blumen für die Vase bringe ich auch mit.

Ich löse meine Arme von ihrem warmen Stamm, schaue noch einmal auf die Gedenktafeln,  falte meine Hände, und bete zum lieben Gott, dass solche Widerwärtigkeiten wie im Dritten Reich nie wieder passieren sollen, nehme kurz meine Maske ab, senke mein Haupt, hebe es wieder gen Himmel. 

Bestimmt schaut mein Vater jetzt von Wolke 7 herunter, und schüttelt mit dem Kopf. Wir glauben nämlich eigentlich nicht an Gott.

Ich winke meiner Schönen noch einmal zu. Ihre Äste winken zurück.

Zu Hause höre ich in den Nachrichten, dass ein junger Mann einen jüdischen Studenten vor einer Synagoge in Hamburg mit einem Spaten niedergeschlagen hat.

Wehret den Anfängen.

(  © Monika Zelle  06.10.2020 )

 Die Birke

Eines Dichters Traumgerank

Mag sich feiner nicht verzweigen

Leichter nicht dem Winde neigen

Edler nicht ins Blaue steigen

Zärtlich, jung und überschlank

Lässest du die lichten, langen

Zweige mit verhaltnem Bangen

Jedem Hauche regbar hangen

Also wiegend leis und schwank

Willst du mir mit deinen feinen

Schauern einer zärtlich reinen

Jugendliebe Gleichnis scheinen.

( Hermann Hesse) 

Altersvorsorge

Altersvorsorge

Viele junge Menschen dachten zu meiner Zeit bestimmt nicht über die Altversvorsorge nach.

Nicht so bei uns in der Familie.

Mein Vater war in seinem Leben an keinem Tag arbeitslos.

Als Hitler an die Macht kam, war er kein Soldat, sondern hatte sogar drei Jobs.

Ich bin von meinem Vater so erzogen worden, dass eine Frau für sich selbst sorgen können muss.

Sich nur nicht von einem Mann abhängig machen.

Also eine gute Schulausbildung und Lehre.

Ganz hat das nicht geklappt, weil ich in der Zeit meiner Ehe mit Kindern und einer pflegebedürftigen Mutter nur teilzeitbeschäftigt sein konnte.

Wenn Herr Kohl nicht unseren Rentenstamm an die Menschen in der ehemaligen DDR gegeben hätte, wäre ich heute dennoch in der Lage, mich gut selbst zu versorgen.

Dann kam irgendwann der Euro. Er hat noch einmal ein Loch in die Portemonnaies der ärmeren Gesellschaftsschicht gerissen.

Demzufolge gibt es keinen Mittelstand mehr.

Na ja, das nur so nebenbei.

Nachdem meine Mutter gestorben war, bekam ich eine schwere Schulterarthrose.

Eine OP stand an.

Danach eine REHA.

Dann Sport. 

Jeden Tag schwimmen.

Als ich so Mitte 50 war, habe ich schon darüber nachgedacht, was ich wohl im Ruhestand so alles machen würde.

Ich nahm an einem Kurs „ Vorbereitung auf den Ruhestand“ teil.

Die Kursleiterin Frau Samson war bei der Seniorenbildung beschäftigt.

Sie machte uns Kursteilnehmer auf viele Veranstaltungen aufmerksam.

Bei einer Lesung auf der „Altonale“ im Museum, saß ich zufällig neben Leni Klein,

die mit ihrer Schreibwerkstattgruppe, geleitet von Oliver Platz dort war.

Die Teilnehmerinnen lasen Geschichten vor. Kurzgeschichten.

Leni fragte mich, ob ich nicht auch Lust hätte, dort Geschichten zu schreiben.

Und ob ich Lust hatte.

Schon immer war ich dem Schreiben sehr verbunden.

Von nun an ging ich jeden Montag von 16 – 18.30h  in die Schreibwerksatt von Herrn Platz. 

Zusätzlich nahm ich an Sprachkursen teil. Meistens Englisch.

Bei Frau Fierlings, einer Studienrätin im Ruhestand, hat das großen Spaß gemacht.

Schwimmen ebenfalls nach wie vor jeden Tag.

Bewegung ist alles, hat schon mein Vater gesagt.

Als ich in den Unruhestand versetzt wurde, besuchte ich zusätzlich zwei Mal in der Woche ein Fitnesscentrum.

Und dann kam Corona.

Nach circa 20 Jahren Schreibwerkstatt stellte sich die Frage, wie weitermachen.

Die Schreibgruppe machte weiter.

Jeden Montag gegen 17 Uhr vernetzen wir uns jetzt über Skype oder Telefon.

Das wöchentliche Schreibthema sammeln wir in einem Pool.

Sogar die 6-Minuten-Geschichte schreiben wir weiterhin.

Das Fitnessstudio habe ich gekündigt.

Zum Schwimmen kann ich auch nicht mehr, mache Gymnastik via Television.

Aber es gibt eine große Freude.

Die Schreibwerkstatt mit Herrn Platz soll wieder aufleben.

Im Mekan, einer Bildungsstätte der AWO in Altona.

In größeren Räumen, wo wir mit Abstand und Maske arbeiten können.

Morgen schauen wir uns mit Herrn Platz die Räume an.

( © Monika Zelle 15.09.2020 )

Abschied

Abschied

Ich hatte Fieber.

Hohes Fieber.

In der Nacht vom 8. Auf den 9. Mai 1972.

27 Jahre nach der Befreiung.

Ich schreckte hoch.

Das Telefon klingelte.

Laut.

Mein Fieber war weg.

Dann die Nachricht.

Ich konnte es nicht fassen.

Niemand aus der Familie hatte mir etwas gesagt.

Niemand.

Warum nicht?

Ich war 25 Jahre alt.

Natürlich wusste ich, dass Papa krank war.

Aber doch nicht so krank.

Ja, er hatte immer so eine rote entzündete Nase.

Aber wie sollte ich wissen, dass es so eine Krankheit war.

Blutkrebs.

Viele Handwerker bei den Hamburger Gaswerken, wo Papa beschäftigt war, hatten diese Krankheit.

Eine Benzolvergiftung.

Vom Reinigen der Maschinen mit diesem Teufelszeug.

Und nun?

Papa war tot.

Einfach so gestorben.

Im Krankenhaus.

Ganz allein.

Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden.

Von dem Menschen, der das Liebste auf der Welt für mich war.

Ich war traumatisiert.

Mit Tante Lotte, seiner Schwester holte ich die Kleidung von Papa aus dem Krankenhaus ab.

In einem blauen Sack.

Die Trauerfeier.

400 Trauergäste.

Wie bei einem Staatsakt.

Passten alle gar nicht in die Trauerhalle.

Papa kannte viele Leute.

Kollegen, Gewerkschafter, Sportsfreunde, und….die Familie.

Eine große Familie.

5 Geschwister hatte er.

Alle sehr alt geworden.

Jeden Tag ging ich nun an sein Grab.

Ich saß dort auf einer Bank, und schaute auf die Grabstelle.

Ein roter Grabstein mit einer Welle.

Papa war Leistungssportler.

Schwimmen.

Und nun sollte er tot sein?

Ich sollte ihn nie wieder sehen?

Ein Abschied für immer?

Undenkbar.

Ich vermisse meinen Papa noch immer.

( © Monika Zelle 01. September 2020 )

Silvesterabend

Silvesterabend

Einsam

Allein

Stille

Unterbrochen vom Knallen der Raketen im Hof

Gedanken

Schwirren wie Blitze im Kopf

In der Ferne

Ein Martinshorn

Menschen in Not

Tränen rinnen zum Mund

Salz auf der Zunge

Sekt perlt im Glas

Das alte Jahr geht

Der Schmerz bleibt  

( © Monika Zelle 12.12.2019 )

Nach Hause kommen

Nach Hause kommen.

Sie fährt so gern dorthin.

Nach Dänemark, an den Ringkoebingfjord in der Nähe von Hvide Sande. 

Jedes Jahr wieder in dieses geräumige Steinhaus, wo sie, wie zu Hause, ihr eigenes Zimmer bezieht, um in Ruhe zu lesen, zu schreiben und vor allem zu schlafen.

Sieht sie morgens aus ihrem Fenster, geht die Sonne über der hohen Düne auf, die sie schon so oft bestiegen hat.

Von hier aus schaut sie weit über den Fjord, auf der anderen Seite kann sie bei klarer Sicht die Nordsee sehen.

Wenige Schritte von ihrem Haus entfernt, liegt der malerische Hafen, von dem die Fischer mit ihren Booten hinaus auf den Fjord fahren, um mit einer Ladung Fische wieder nach Hause zu kommen.

Am Fenster des Wohnraumes verbringt sie viel Zeit in einer gemütlichen Sitzecke mit Lesen.

Ihre Traumecke.

Der weite Fjordblick.

Manchmal wandert sie zu Fuß nach Hvide Sande, durch eine Dünenlandschaft, die Seinesgleichen sucht.

Begegnet sie Wanderern zu Fuß oder zu Pferd, grüßt sie freundlich, und wünscht einen guten Tag.

Bummelt sie durch Hvide Sande, führt ihr Weg als erstes zu Karen in den Töpferladen.

Karen macht hier alles selbst.

Ein paar Ohrringe wechseln immer die Besitzerin.

Dann geht`s zur Räucherei, leckeren Fisch essen, und im Cafe ein Softeis.

Am liebste allerdings zieht es sie ans Meer, sich den Wind um die Nase wehen lassen, mit bloßen Füßen im Sand, ihren Gedanken freien Lauf lassen, oder bei wenigen Graden Wassertemperatur nackt in die Nordsee springen.

Abends.

Der Sonnenuntergang.

Bei einer Flasche Bier.

Am Meer.

Am liebsten noch im Meer.

Würde sie gerne leben.

In Dänemark.

Mit den glücklichsten Menschen der Welt.

Vor Achtundvierzig Jahren hat sie Hvide Sande mit ihm besucht

Sie haben gezeltet.

Direkt an einer Düne.

Von oben konnte sie auf der einen Seite die Nordsee, auf der anderen Seite den Fjord sehen.

Dann kam das Gewitter.

Zitternd saß sie im Zelt.

Er sprang drum herum.

Die Heringe befestigen.

Nie wieder zelten.

Nach Hause will sie nicht, wenn sie hier ist.

Und überhaupt.

Am liebsten wäre sie immer unterwegs.

Nie irgendwo ankommen.

Nie wieder nach Hause kommen.

Außer in ihr Fjordhaus.

Das ist sie zu Hause.

( © Monika Zelle 25.08.2020 )

Karin oder das Wiedersehen

Karin

Als ich zum ersten mal wieder an einem Klassentreffen teilnahm, hatte ich meine Klassenkameraden 45 Jahre nicht gesehen.

Karin hatte mich telefonisch kontaktiert, und ihre erste Frage war:“ Was macht denn Dein Mann?“ „ Meinem Mann geht’s gut!“, war meine Antwort. Sie meinte aber etwas anderes.

Wolfgang hatte Christa und mich vom Hauptbahnhof abgeholt.  Gemeinsam sind wir  nach Lankau in unser Schullandheim in die Holsteinische Schweiz gefahren.

Als ich dort aus dem Auto stieg stand mein Klassenlehrer Herr Böhme plötzlich vor mir.

Wir waren alle so um die 60 Jahre alt, unser Lehrer circa  75 Jahre.

„ Du siehst toll aus, Monika!“, bemerkte er.

„ Ich gehe ja auch jeden Tag zum Schwimmen!“, meine Antwort.

„ Ich schwimme auch jeden Tag!“, sagte mein Lehrer. Alle lachten.

Die meisten meiner Klassenkameraden erkannte ich sofort wieder, sie mich auch.

Karin nahm mich sofort in Beschlag, und wich nicht wieder von meiner Seite.

Eigentlich mochte ich ihre weinerliche Stimme nicht.

Das Treffen wurde ein voller Erfolg.

Zu Karin nahm ich keinen telefonischen oder persönlichen Kontakt mehr auf.

Das nächste Treffen war ein paar Jahre später auf der Hallig Langeneß.

Unser Lehrer fuhr auf einer Klassenreise mit uns hierher, als wir 10 Jahre alt waren.

Ein Erlebnis.

Als Kinder schliefen wir hier noch auf dem Heuboden, wuschen uns mit kaltem Wasser, und putzten unsere Zähne mit Salzwasser. 

Jetzt bezogen wir auf einer Warft ein modernes Haus mit Duschen und beheizten Zimmern.

Bernd, der diese Reise organisiert hatte, sprang als erster in die höchstens 12° kalte Nordsee. Ich tat es ihm nach. Als abgehärtete Schwimmer machte uns die Kälte nichts aus.

Auch auf diesem Treffen wich Karin nicht von meiner Seite, was mir nicht gefiel.

Als Kind hatte ich ihr immer bei den Deutschhausaufgaben geholfen.

Nach diesem Treffen rief sie mich einige Male an. 

Die Klasse traf sich von nun an jeden 2. Dienstag im April in einem Restaurant in Wandsbek, immerhin noch fast 20 Schüler und Schülerinnen, und unser Lehrer, der mittlerweile über 80 Jahre alt war.

Nach dem ersten Treffen fuhr ich mit zu Karin nach Hause.

Blitzsauber und peinlichst aufgeräumt, ihre Wohnung. 

Nicht mein Ding.

Dann starb ihr Ehemann an Lungenkrebs, was mir leid tat,  mich aber nicht veranlasste, sie öfters anzurufen. Ganz im Gegensatz zu ihr. 

Auf ihr Drängen besuchten mein Mann und ich sie dann doch.  Wir spielten Rummykub .

Mit Kaffee, Kuchen und Abendbrot hatte sie sich viel Mühe gegeben.

Sie hatte sich verändert, war bestimmter und selbstbewusster geworden. Bei Problemen stand sie mir mit Rat und Tat zur Seite. Auch ich verstand sie besser, und kümmerte mich um sie.

Sie besuchte uns zu Hause, und wir hatten eine gute Zeit. Auch ich gab mir große Mühe, sie gut zu bewirten. 

Bis heute macht uns das Rummykub Spielen  sehr viel Spaß, und wir sind noch im hohen Alter beste Freundinnen geworden, und immer füreinander da.

( © Monika Zelle 12.08.2020 )

Aila

Aila

Aila wo bist Du? Warum schreibst Du nicht mehr?

Kannte sie Aila eigentlich richtig?  Doch meinte sie, Aila durch ihre vielen Briefe kennen zu müssen.

Dann kamen keine Briefe mehr.

Sie erinnerte sich an die wenigen Besuche in Heide, an die warme, durch einen Holzofen beheizte große Küche, wenn Aila, ihr Mann und ihr Sohn mit ihr am Küchentisch saßen, leckere von Aila selbst gemachte Pizza aßen, und danach Karten spielten.

Später ging sie mit Aila in ihr Refugium, ein Nähzimmer, wo Stoffe und Wolle aufgetürmt um die Nähmaschine herumlagen, die fast nicht mehr zu sehen war.

Sie gingen stundenlang in Wald und Feld spazieren, tauschten sich aus über Sorgen und geheime Wünsche, oder sie schwiegen, und lauschten dem Rauschen der Wälder und dem Zwitschern der Vögel.

Jetzt erinnerte sie sich plötzlich, dass Aila ihr einmal von einer Liebschaft in St.Peter Ording erzählt hatte. Sie hatte Haus und Hof Hals über Kopf verlassen.

War dann aber doch reumütig nach Hause zurückgekehrt.

Was war das für eine Liebschaft? Wie sah der Mann aus? Warum hatte Aila sich so unsterblich in diesen Mann verliebt. Darüber hatte sie nie gesprochen.

Morgen würde sie noch einmal in Heide anrufen, und den ebenso schweigsamen Mann wie Sohn fragen.

Einmal hatte sie wegen einer schweren Migräne stundelang in Aila`s Garten auf einer Liege verbracht. 

Aila mochte keine Krankheiten, und auch nicht darüber sprechen.

Sie zeigte ihr lieber, wie man Männersocken am praktischsten zusammen legt.

Sie sprachen und schrieben meistens op Platt. 

Dat wär eehre Modersprook.

Sie waren beide in demselben Stadtteil von Hamburg aufgewachsen.

Nein, anrufen würde sie die beiden Drömels lieber nicht noch einmal, hatte Aila`s Mann sie einst ziemlich schroff am Telefon abgefertigt.

„ Aila ist eben weg!“

Jetzt erinnerte sie sich daran, dass Aila einmal zu ihr sagte, sie würde zum Sterben in den Wald gehen. Auf  keinen Fall wollte sie in einem Krankenhaus oder Pflegeheim dahin vegetieren, dann lieber wie ein Tier sterben.

Aber wann sollte das sein? Wie weiß sie, dass sie sterben muss?

Ob Aila schon tot ist? Das hätte man ihr doch aber mitteilen können.

Ihre Briefe fehlten ihr so.

Aila hatte sie sogar einmal in Hamburg besucht, als sie sich den Fuß verstaucht hatte.

Sie waren zusammen Eis essen gegangen.

Immer wenn sie über den Nord-Ostsee-Kanal nach Dänemark fuhr, schaute sie sehnsüchtig über den Kanal, und ihre Gedanken waren bei Aila.

Aila, wo bist Du?

( copywrite Monika Zelle 02.10.2013)

Am Bahnhof

Am Bahnhof

Genug ist genug.

Am Pferdekopf in der Einöde mitten im Wald der Lüneburger Heide.

In einem schicken Kostüm und hochhackigen Pumps stöckelt Tante Gertrud den Waldweg entlang. 

Sie hat sich stadtfein gemacht.

Eine Landpomeranze war sie noch nie.

Und ausgehalten hat sie es in der Heide auf ihrem Grundstück höchstens 14 Tage lang.

Sie muss wieder den Duft der großen weiten Welt riechen.

Stadtluft schnuppern, auf den Dom und ins Kino gehen.

Einkaufen in der Mönckebergstraße bei Karstadt.

Das ist ihre Welt.

Papa und ich begleiten sie auf dem Weg drei Kilometer durch den Wald nach Holm-Seppensen. 

Hohe Kiefern säumen den Weg. Lichtdurchflutet fallen die Sonnenstrahlen wie kleine Sternschnuppen auf die drei hernieder.

Sie erreichen den kleinen um die Jahrhundertwende erbauten Bahnhof.

Ein Fachwerkhaus wie auf einer Miniatureisenbahnanlage.

In einer halben Stunde kommt der Triebwagen nach Buchholz.

Bei Lorenz, dem einzigen Feinkostladen im Dorf, kauft meine Tante frische Brötchen, Butter und Leberwurst.

Wir setzen uns auf die Bank an der Bahnstation.

Ein Messer hat Tante Gertrud immer dabei.

Sie schneidet die Brötchen auf, schmiert Butter und Leberwurst drauf, und reicht Papa und mir eines.

Es schmeckt köstlich an der frischen Waldluft.

Der Gedanke, dass meine Tante jetzt in die Stadt fährt, macht mich ganz nervös.

Bittend schaue ich Papa an:

„ Ich möchte mit nach Hamburg fahren!“, bettle ich.

„ Das muss ich erst mit Deiner Mutter besprechen!“, meint er.

„ Die sagt sowieso nein!“, wende ich ein“, und sehe jetzt schon ihren bösen Blick.

„ Lasse sie doch mitfahren, Bruno!“, sagt meine Tante zu ihrem Bruder,

ist doch nur eine Woche.

„ Monika hat doch gar keine Sachen dabei“, meint Papa.

„ Die kaufe ich ihr in Hamburg, kein Problem!“, sagt Tante Gertrud.

Papa schüttelt mit dem Kopf und sagt:“ Meinetwegen.“

Glücklich schaue ich ihn an, meinen Papa, gutmütig, verständnis-und liebevoll wie immer.

Der Bummelzug fährt ein.

An der Hand meiner Tante steige ich in den Zug, winke meinem Papa lachend zu, und denke an meine Mutter.

Was wird sie dazu sagen?

( © Monika Zelle 04.08.2020 )

Wenn sie nicht….dann hätte sie nicht….

Wenn Sie nicht… dann hätte Sie nicht…

Wenn Sie nicht 1971 bei der Standard Bank Limited gekündigt hätte, dann hätte Sie  nicht im selben Jahr bei der Behörde angefangen, und dort ihre Kollegin Helga kennen

gelernt.

Wenn Sie nicht im März 1973 auf Helgas beiden Kinder aufgepasst hätte, dann hätte sie dort nicht ihren früheren Verlobten und späteren Mann getroffen, der sich sofort in Sie verliebt hat.

Wenn Sie nicht mit einer Langspielplatte von Udo Jürgens und einer Azalee für ihre Eltern zum Hochzeitstag an dem Abend noch mit zu ihm gefahren wäre, dann hätte er Sie nicht einfach geküsst, und Sie wäre heute nicht 47 Jahre mit ihm verheiratet.

Wenn er nicht 1973 ihr Ehemann geworden wäre, dann hätte Sie nicht 1975 ihren Sohn Stefan zur Welt gebracht.

Wenn Sie nicht ihren Sohn bekommen hätte, dann hätte Sie vielleicht doch vorher nach Australien auswandern können.

Wenn Sie nicht 5 Jahre nach der Geburt ihres Sohnes noch ihre Tochter zur Welt gebracht hätte, dann hätte Sie nicht nach der Geburt eine schwere Erkrankung bekommen.

Wenn Sie nicht diese beiden Kinder groß gezogen hätte, dann wäre Sie vielleicht jetzt in Australien verheiratet, oder hätte sich dort mit ihrer Cousine selbständig gemacht.

Wenn Sie nicht den jetzigen Vater ihrer Kinder geheiratet hätte, dann wäre auch nicht ihre Enkeltochter Lea auf der Welt.

Wenn Sie nie geheiratet hätte, dann hätte Sie wahrscheinlich beruflich die Karriereleiter  erklommen,  immer Vollzeit gearbeitet,  viel mehr Geld verdient, und wäre jetzt nicht so eine arme Rentnerin.

Wenn Sie nicht ihre Mutter 10 Jahre gepflegt hätte, dann wäre Sie nicht an den Schultern operiert worden, weil viel zu viel Gewicht auf ihnen lastete.

Hätte, hätte Fahrradkette.

Was wäre wenn.

Es ist aber nicht so, wie wäre es wenn.

Es ist wie es ist.

Nützt ja nichts. 

( © Monika Zelle 28.07.2020 )