Meine Puppe Helga
Nie hätte ich für möglich gehalten, dass meine beste Freundin Margrit zu einer so abscheulichen Tat fähig gewesen wäre.
Wir waren wirklich beste Freundinnen, teilten Freud und Leid miteinander.
Margrit war zwei Jahre jünger als ich.
Unsere Mütter waren zur selben Zeit schwanger.
Wir sollten beide ein Geschwisterchen bekommen, und freuten uns wie die Schneeköniginnen.
Von nun an spielten unsere Puppen die Hauptrolle.
Meine Puppe Helga, schokoladenbraun, große schwarze Augen, krause Haare, trug ein rot-weiß-gepunktetes Dirndl, mit wunderschönen Trachtenknöpfen, dazu eine giftgrüne Schürze, von meine Mutter selbst genäht, auch die Puppe.
Margrits Puppe hieß Franziska.
Sie trug ein langes buntgeblümtes Kleid mit Puffärmeln von der Stange.
Täglich trafen wir uns nun, steckten unsere Puppen unter die Pullover, und spielten Babykriegen, trugen die Puppen unter dem Herzen, wie unsere Mütter die Geschwisterchen.
Meine Puppe Helga wurde zuerst geboren, dann kam Franziska.
Wir stillten sie wie im richtigen Leben.
Gewickelt wurden sie mit den großen, frisch gebügelten Stofftaschentüchern meines Vaters.
Dann war es soweit.
Meine Mutter brachte an einem warmen, sonnigen Sonntag im Mai meine Schwester Gabriela zur Welt.
Sie war rund und gesund.
Das Geschwisterchen von Margrit ließ noch ein paar Tage auf sich warten.
Ein kleiner Robert.
Zu klein.
Nach ein paar weiteren Tagen verließ er uns wieder, für immer.
Margrit und ich trugen den Schmerz gemeinsam.
Ihre Puppe Franziska schrie unaufhörlich, während Helga friedlich in meinen Armen schlief.
Franziska schrie so heftig, bis sie keine Luft mehr bekam, und auch von uns gehen musste.
Als der kleine Robert beerdigt wurde, legten wir Franziska zu ihm.
Eines Tages fragte Margrit mich, ob ich ihr meine Puppe Helga mal ausleihen würde.
Eigentlich mochte sie keine Negerpuppen.
Ich tat es.
Natürlich.
So vergingen einige Tage.
Margrit ließ sich immer etwas anderes einfallen, um meine Puppe noch behalten zu können.
Einmal schlief sie gerade, dann wurde sie gebadet.
Ich durfte nicht zuschauen, und bekam meine Puppe auch nicht zu Gesicht.
Du hast doch dein Schwesterchen, meinte Margrit.
Meine Sehnsucht wurde immer größer. Ich liebte Helga sehr.
Eines Tages lag meine Puppe auf unserer Fußmatte.
Nackt, völlig zerstochen, das Stroh quoll aus ihr heraus, der Kopf abgerissen.
Auf einem Zettel stand:
„Jetzt kannst du das Negerleinzurück nach Afrika schicken, wo es hingehört, Du hast ja jetzt ein weißes Geschwisterchen!“
Zärtlich nahm meine Mutter mich in den Arm.
Sie nähte mir eine neue Puppe, die genau so aussah wie meine Puppe Helga, mit einem rot-weiß-gepunkteten Dirndl, einer giftgrünen Schürze und wunderschönen Trachtenknöpfen.
Aber es war eben nicht meine Puppe Helga.
( copyright Monika Zelle 17. Oktober 2017 )