Weihnachten 1949

Mit einem Sack Kohlen auf dem Rücken astete Bruno schwer atmend die Holzstiege zu der Wohnung hoch, die er mit seiner Frau Anne und den beiden Kindern in zwei kleinen Zimmern und einer winzigen Küche in Vierlanden an der Elbe hinter dem Deich

bewohnte. 

Anne öffnete ihm die Tür. 

Sie strahlte ihn mit ihren großen blauen Augen an, als sie den kleinen Weihnachtsbaum unter seinem rechten Arm entdeckte, legte den linken Zeigefinger auf ihre Lippen, und deutete auf die Wohnzimmertür, die am heiligen Abend stets verschlossen war.

Flink öffnete sie die Tür, Bruno schlüpfte hinein und stellte das Bäumchen auf eine kleine Holzkiste. 

Dann erst nahm er den Duft aus der Küche wahr.

Er schaute seine Frau fragend an.

„ Es riecht nach Geflügel, Anne! Was hast Du dort leckeres im Ofen?“

„ Ich habe das Kleid für Heike Petersen heute Morgen noch fertig genäht, dafür habe ich eine Gans bekommen.“

Bruno lief das Wasser im Mund zusammen. Eine Gans.

In diesen Zeiten.

Wegen der Hungersnot in Hamburg mussten sie nach Kriegsende mit ihrem zwölfjährigen Sohn, und ihrer gerade mal 4 Wochen alten Tochter aufs Land ziehen.

Großzügig waren die Bauersleute gerade nicht den Städtern gegenüber.

Anne nähte und strickte für sie, und bekam dafür Naturalien.

Warm hatten sie es immer.

Bruno hatte als Autoschlosser eine Stelle bei den Hamburger Gaswerken angetreten.

Ein Glücksfall.

Kohlen gab es umsonst.

Mit flinken Händen schmückte Anne das Bäumchen mit den selbstgebastelten Weihnachtskugeln von Tante Karla.

Auch für Kerzen war gesorgt. 

„ Du hast ja sogar einen Kuchen gebacken, wie herrlich, Anne!“

Leise hörte man das Murmeln der Kinder aus der Schlafstube.

Reinhard spielte mit seiner kleinen Schwester Monika, und passte auf, dass sie nicht in die Wohnstube lief.

Jetzt musste sie mal.

Reinhard nahm sie bei der Hand, lief mit ihr die Holzstiege hinunter, raus in die Kälte, um das strohgedeckte Bauernhaus herum, die schneebedeckte glatte Treppe hinunter zum Plumpsklo.

Der eisige Wind schnitt in ihre Gesichter.

Zitternd setzte er Monika aufs Klo.

Es musste schnell gehen, sonst wäre sie wohl mit ihrem kleinen Popo auf der Holzkante festgefroren, so wie die Finger von Anne, wenn sie draußen die Wäsche auf die Leine hängte.

Heike Petersen hatte eine warme Waschküche mit allem Drum und Dran, aber die durfte Anne nicht benutzen.

Schnell wieder zurück in die warme Wohnung.

Dann war es soweit. Das Weihnachtsglöckchen klingelte.

Bescherung.

Endlich durften Monika und Reinhard in die Stube.

So hatten die Eltern die Augen ihrer beiden Kinder lange nicht strahlen sehen.

Reinhard staunte über den festlich gedeckten Tisch.

Dann kamen Tante Anni und Onkel Hubert zu Besuch.

Zwei große Pakete legte Onkel Hubert unter den Baum.

Geschenke!

Aufgeregt packten die Kinder sie aus.

Für Monika ein selbstgebasteltes Puppenkarussell aus Holz, für Reinhard ein Wagenrad für seine Seifenkiste, die er mit seinem Vater baute.

Er wollte an einem Seifenkistenrennen in Hamburg am Venusberg teilnehmen.

Dann wurde gegessen.

Bruno hatte sogar eine Flasche Wein organisiert.

Satt und zufrieden saßen alle um den Tisch herum.

Die Kinder schliefen schon, als sich die Erwachsenen noch lange über die Gräueltaten dieses unsinnigen Krieges unterhielten, der ihre Seelen tief verletzt hatte.

Dennoch.

Dankbar schaute Tante Anni ihren Freund Bruno an.

Er hatte ihr als russische Jüdin das Leben gerettet.

( Monika Zelle 29. Oktober 2019 )

Fast beringter Ritterling

Das Telefon klingelte. 

Sie nahm den Hörer ab, und sagte:“ Hallo?“

Es blieb still in der Leitung.

Sie sagte noch einmal:“ Hallo, wer ist denn da.

„ Ja, ähm hier ist Dein Bruder!“

Ihr fiel fast der Telefonhörer aus der Hand.

Sie glaubte nicht, was sie da hörte.

Hatte er ihr nicht vor Jahren durch einen Anwalt verbieten lassen, ihr zu schreiben?

„ Was willst Du!“, schrie sie.

„ Ich möchte mich mit Dir versöhnen!“

„ Was? Habe ich richtig gehört? Versöhnen?

„ Ja.“

Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Sollte das die Gelegenheit sein, sich endlich an ihm zu rächen?

Wie lange war sie nicht in ihrer geliebten Heide gewesen.

In ihrer zweiten Heimat, in der sie 60 Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Wo sie jeden Weg und Steg kannte.

Auf dem Land ihrer Väter.

Er hatte es einfach verkauft, ohne sie zu informieren.

Wut und Hass stiegen in ihr hoch.

Und jetzt, jetzt wollte er sie wiedersehen?

Warum?

Ja, sie würde sich mit ihm treffen, und dann würde sie ihm zeigen, wer den längeren Arm hat.

„ Bist Du noch dran?“, Lästerschwein?

Das hatte er schon zu ihr gesagt, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war.

Lästerschwein.

Schwesterlein sollte das eigentlich heißen.

Schon damals hatte sie ihn dafür gehasst.

„ Ja, ich bin noch dran!“

Schweigen.

Sie würde sich mit ihm treffen, und dann würde sie all ihre Wut aus sich herauslassen, ihm mit dem schärfsten Küchenmesser, dass sie besaß, erstechen.

Aber vorher würde sie ihn demütigen.

Auf die Knie sollte er vor ihr gehen, und um Gnade bitten.

Andererseits, schoss es ihr durch den Kopf, würde sie wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteil werden.

Aber was war schon lebenslang?

Wer weiß, wie lange sie noch hatte.

Auch er war alt.

Lohnte sich das alles überhaupt noch.

Sie könnte sein Land und sein Haus erben.

Sich endlich das holen, was ihr eigentlich zustand.

„ Bist Du noch dran, Lästerschwein, warum sagst Du nichts?

Triffst Du Dich jetzt mit mir oder nicht?“

Es müsste ja auch kein Blutvergießen werden, dachte sie.

Er aß doch so gerne Goulasch mit Pilzen.

Ja , genau, sie könnte sich mit ihm bei ihrer Kusine in der Heide treffen, mit ihr zusammen das Goulasch kochen. Mit Pilzen kannten sie sich ja beide aus, ihre Cousine und sie.

Aber die Menge. Wie viele Pilze müssten es sein, damit er elendig daran zu Grunde ging.

Sie würde den Fastberingten Ritterling wählen, der war dem Steinpilz am ähnlichsten.

Und was, wenn bei der Obduktion der Grund seines Ablebens herauskam. Dann war sie geliefert.

 Sie könnte aber auch ihre Cousine beschuldigen, sie war doch die Kräuterhexe.

„ Nun sag schon, Lästerschwein, wo wollen wir uns treffen?“

Sie legte den Hörer auf.

( © Monika Zelle 05.11.2019 )

Bickbeeren

Laut ratterte der Tempo den Heideweg ins Dorf hinunter.

Miriam mit ihrer Mutter in Decken gehüllte hinten drauf.

Es ging wieder zurück in die laute Stadt.

Sechs Wochen Ferien in der Heide ade.

Miriam weinte. 

Jetzt hatten sie das Dorf Holm-Seppensen verlassen, und die Landstraße in Richtung Buchholz erreicht.

Ruhig und sicher steuerte ihr Vater das Gefährt, neben ihm Onkel Ewald sein Bruder.

Wälder und Felder flogen vorbei.

Sie fuhren durch das kleine Städtchen Buchholz, dort erledigten sie in den Ferien die größeren Einkäufe. 

Bald waren sie in Harburg angekommen, hatten bei Tante Bude angehalten, und ein Eis gegessen. 

Wie immer.

Jetzt tuckerte der Tempo den Hamburger Berg hinunter, über die Elbbrücken Richtung Hamburg.

Auf dem Hinweg in die Heide schaffte er es kaum.

Manchmal mussten sie ihn anschieben.

Da die Süderelbe.

Ab hier waren schon die 5 Kirchtürme ihrer Heimatstadt in Sicht.

Die Norderelbe.

Ach, sie liebte es ja doch, ihr Hamburg.

Als sie zu Hause ankamen, ging Miriam sofort Schlafen.

Bevor sie einschlief, schaute sie noch einmal auf das Bild über ihrem Bett.

Das Büsenbachtal.

Die rauschenden Wipfel der Kiefern.

Sie dachte an die Wanderungen mit Onkel Ewald, den Pausen beim Milchmann, leckere frische Milch von der hauseigenen Kuh.

Und dann das Leberwurstbrötchen.

Fußballspielen mit den Freunden und Papa.

Papa, der den Kindern Schiffe aus Borke schnitzte, die sie dann auf dem Büsenbach fahren ließen.

Kienäppel sammeln für den Bullerofen, auf dem die leckeren Blaubeerpfannkuchen brutzelten. 

Bickbeersammeln im Wald.

50 Pfennige das Pfund bekam sie vom Grünhöker.

Körbeweise hatte sie die Bickbeeren zu seinem Wagen getragen.

20 DM Taschengeld.

Sie hörte das Klopfen des Buntspechtes am Baum, um das Nest für die Jungen zu bereiten.

Den Schrei des Eichelhähers, wenn Gefahr in Verzug war.

Sah in der Dämmerstunde die Rehe am Waldessaum. 

Ihre Mutter kam zum Gute Nachtsagen.

Sie sang ihr das Lied „ Im schönsten Wiesengrunde vor“.

Miriam weinte wieder.

„ Nun höre endlich auf zu weinen! Es nützt doch nichts.

Denke lieber an Deine Schule morgen, es gibt noch viel zu lernen!“

Miriam dachte lieber an das Taschengeld.

Was würde sie sich in der Stadt dafür kaufen?

Oder sollte sie es sparen?

Morgen würde sie mal zu Karstadt gehen.

( Monika Zelle 22. Oktober 2019 )

Wolf

Wolf

Verträumt schaute Miriam aus dem Fenster ihres Zimmers in der 3. Etage der Mietwohnung ihrer Eltern auf die Nissenhütten.

Sie waren nach dem 2. Weltkrieg als Notbehelf für die Flüchtlinge aufgebaut worden.

Weiße Bettlaken flatterten auf den Wäscheleinen vor den Hütten im Wind.

Spielen durfte Miriam mit den „ Schmuddelkindern“ nicht.

„ Die haben Läuse“, meinte ihre Mutter.

Auf dem Gelände der Nissenhütten gab es eine Kneippe, in der nicht nur gezecht wurde, nein, hier gab es die leckerste Leberwurst zu kaufen, die sie jemals gegessen hatte.

„ Miriam, geh einmal rüber zum goldenen Anker, und kaufe ein ¼ Pfund von der Kalbsleberwurst!“ sagte ihre Mutter.

Sie erschrak zutiefst, als sie diese Worte vernahm.

Vor der Kneippe wachte ein Schäferhund an der Kette, der jeden Besucher mit einem wütenden Kläffen begrüßte.

Es nützte nichts, ihre Mutter war unerbittlich.

Als Miriam bei der Kneippe ankam, war der Hund nicht zu sehen.

Schnell huschte sie durch die Tür in den Schankraum.

Der Raum war entsetzlich verraucht.

Ihre Augen tränten.

Langsam ging sie an den Tischen mit den johlenden Männern vorbei zum Tresen.

Und da lag er, der Schäferhund.  

Wolf.

Bellte sie an, fletschte die Zähne von einem furchterregenden Knurren begleitet.

Mit zitternder Stimme bestellte Miriam das ¼ Pfund Leberwurst bei dem Wirt.

Bezahlte, und wollte den Schankraum wieder verlassen.

Der Hund ließ sie nicht aus den Augen.

Er war auf dem Sprung.

Seine Lefzen trieften.

Als sie die Tür öffnete, um hinauszugehen, hörte sie nur noch den Wirt rufen:

„ Wolf! Hierher!“

Doch der Hund war schneller.

Durch die geöffnete Tür schoss er nach Draußen.

Miriam lief mit der Leberwurst davon.

Der Hund hinter ihr her.

Vor lauter Angst drehte sie sich um, und warf dem Hund die in Butterbrotpapier eingewickelte Leberwurst vor die Vorderläufe, und lief so schnell sie konnte nach Hause.

Ihre Mutter fluchte, das Geld war knapp. 

Der Holzlöffel hielt den Schlägen auf ihrem Rücken nicht stand. 

Nach einiger Zeit sollte sie wieder die Leberwurst besorgen.

Miriam weigerte sich unter Tränen.

Es half nichts.

Schon von weitem sah sie den Hund an seiner Kette liegen.

Diesmal musste sie die Wurst nach Hause bringen.

Doch sie traute sich nicht an dem Hund vorbei, und lief zurück nach Hause.

Wutentbrannt ging ihre Mutter selber zum Goldenen Anker.

An Wolf vorbei, rein in den Schankraum, raus mit der Leberwurst in der Hand.

Der Hund kläffte wie verrückt, seine Augen sprühten Gift und Galle.

Er fletschte die scharfen Zähne und sprang an meiner Mutter hoch, riss ihr das Wurstpaket aus der Hand, und biss ihr kräftig in den Daumen.

Fluchend und blutend kam sie zu Hause an.

Der Daumen musste genäht werden.

Einige Tage später war Wolf verschwunden.

Das Geschäft mit der Leberwurst boomte.

( © Monika Zelle 15. Oktober 2019 )

Lektüre

Als die Staatsanwältin Luise Kessler sich morgens an ihren Schreibtisch setzt, traut sie ihren Augen kaum.

Schon wieder ist die Seite ihres Buches verschlagen, in dem sie jeden Tag in der Mittagspause liest, um sich von den anstrengenden Gerichtsverhandlungen abzulenken.

Wer liest in ihrem offenen Buch? 

Wütend sucht sie die Seite, auf der sie die letzten Zeilen gelesen hatte.

Das konnte doch nicht wahr sein, dass irgendjemand sich erdreistete in ihrem eigenen Buch zu lesen.

Die Tür zu ihrem Büro fliegt auf.

Ihre Sekretärin Martha stellt ihr die morgendliche Teetasse mit einem Keks auf dem Untertellerrand auf den Schreibtisch.

Der blumige Duft des Tees beruhigt ihre angespannten Nerven.

„ Sagen Sie mal Martha, wissen Sie, oder haben Sie gesehen, wer hier wohlmöglich an meinem Schreibtisch sitzt, um in meinem Buch zu lesen? Immer ist die Seite verschlagen, auf der ich zuletzt gelesen habe!“

„ Nein, das weiß ich leider nicht. Wenn ich morgens das Büro betrete, scheint es mir nicht so, als ob hier schon jemand in den Räumen gewesen ist.“

Luise Kessler nimmt einem großen Schluck aus der Tasse, und verbrennt sich die Zunge.

Laut fluchend springt sie auf, und holt sich ein Stück Eis aus dem Eisfach ihres kleinen Kühlschranks.

„ Sagen Sie bitte Herrn Horstmann, er soll in mein Büro kommen.“

Leise betritt der Polizist, der nachts die Kontrollgänge im Gerichtsgebäude durchführt, das Büro der Staatsanwältin. Tiefe Ränder umschatten seine Augen, er wollte gerade nach Hause gehen.

„ Wissen Sie, ob sich in der Nacht oder frühmorgens jemand in meinem Büro aufhält, um in meinem aufgeschlagenen Buch zu lesen? 

„ Nein, antwortet Horstmann kurz angebunden, nichts gesehen.“

„ Aber wozu drehen Sie hier Ihre Runden, wenn Ihnen nichts auffällt!“ 

„ Vielleicht sollten Sie Ihr offenes Buch zuschlagen, und vorher ein Lesezeichen hineinlegen?“

Mit diesen Worten verlässt der Polizist unaufgefordert das Büro der Staatsanwältin.

Diese kocht vor Wut, und verschluckt sich an dem Heidesandkeks, den sie sich ganz in den Mund gestopft hat.

„ Na, denen werde ich es zeigen, ich werde schon rausbekommen, wer sich hier an meinem Buch vergreift.

Am nächsten morgen betritt Luise Kessler schon gegen 6.00Uhr früh das Gerichtsgebäude.

Ein bisschen mulmig ist ihr schon. Kein Schreibmaschinengeklapper zu hören.

Wie ein Geisterhaus erscheinen ihr die heiligen Hallen.

Sie nimmt nicht den Paternoster sondern die Treppe.

Auf halbem Weg nach oben taucht vor ihr eine gebückte Person auf, die sich an Eimer und Feudel zu schaffen macht.

„ Putzen Sie hier jeden morgen?“

„ Ja.“

Putzen Sie auch das Büro der Staatsanwältin Kessler?

„ Ja, da putze ich besonders gern, und mach dort meine Kaffeepause!

„ Und? Ist Ihnen vielleicht einmal aufgefallen, ob jemand in meinem aufgeschlagenen Buch auf dem Schreibtisch liest?“

Das Gesicht der Putzfrau wird puterrot.

„ Ja, ähm“, weiter kommt sie nicht. Der Staatsanwältin schwant böses.

„ Lesen Sie etwa in dem Buch? 

Die Putzfrau steht auf. Sie hält es auf ihren Knien nicht mehr aus, obwohl es ihr in dieser Situation angemessen erscheint, weiter zu knien. Sie überragt die Staatsanwältin um einige Zentimeter. 

„ Aber ich fand das Buch so interessant, weil meine Tochter in der Schule gerade das Thema Judenverfolgung durchnimmt, und mit ihrer Klasse ihre Verhandlungen besucht! Da wollte ich mitreden können. Es handelt von einer Bücherdiebin, einem Kind, deren Eltern im Dritten Reich einen Juden versteckt haben.

„Also Sie sind das, und dann haben Sie die Seite auch noch mit einem Kaffeefleck verschmutzt! Ich muss doch sehr bitten!“

Eilig steigt Luise Kessler die Treppen hinauf zu ihrem Büro.

Eine Putzfrau liest in ihrem Buch, und dann der Kaffeefleck, das hat Konsequenzen.

( © Monika Zelle 01.10.2019 )

Tanz auf dem Vulkan

Tanz auf dem Vulkan

„ Junggebliebene(r)“  Endsechziger möchte noch einmal einen Tanz auf dem Vulkan erleben, Kultur und Reisen genießen, immer im Gespräch bleiben, mit  zärtlicher kluger „ Sie“, durch Dick und Dünn gehen. Geld spielt keine Rolle.

Martha Koch las die Anzeige immer wieder.

Ja, das war „ER“, den sie seit langem suchte.

Eigentlich hatte sie es sich in ihrem Leben bequem gemacht.

Doch etwas fehlte.

Wie lange war sie mit ihrem Mann nicht mehr im Kino oder Theater gewesen. 

„ Noch einmal auf einem Vulkan tanzen“, ja tanzen, das wollte sie unbedingt wieder.

Ihr Mann las Zeitschriften statt Bücher und…. sprach so gut wie nie. 

Also worauf warten.

Raus aus der Eintönigkeit ihres Daseins.

Wie lange hatte sie das Meer nicht gesehen, einen Sonnenuntergang am Strand.

„ Geld spielt keine Rolle!“

Das war es doch.

Martha Koch träumte schon lange von einem Haus am Meer.

Raus aus der lauten Stadt.

Sich die frische Meeresbrise um die Nase wehen lassen.

Raus aus den stickigen Räumen ihrer Wohnung.

Zärtlich konnte Martha Koch sein, klug war sie auch.

Sie las und diskutierte gern.

Einmal wieder die Berührung eines Menschen spüren.

Ihre Hand in seiner Hand.

Gemeinsame Wege gehen.

Neue Wege beschreiten in eine unbekannte Welt.

Einmal Australien sehen.

Tanzen mit Aborigines.

Ihren Digeridoos lauschen.

Sie schrieb einen Brief an die Zeitung.

Die Chiffrenummer lautete 1008.

Einige Tage später kam die Antwort.

Sie verabredeten sich in einem kleine Cafe`.

Das Buch „ Zusammen ist man weniger allein“, sollte das Erkennungszeichen sein.

Als sie am Tag der Verabredung die Wohnung verließ, rief ihr Mann hinter ihr her:“ Wo willst Du schon wieder hin!“

Ohne ihm zu antworten ließ sie die Tür ins Schloss fallen.

Auf zu neuen Ufern.

Im Cafe` setzte sie sich an einen Fensterplatz, das Buch aufgeschlagen in den Händen. 

Auf der anderen Straßenseite hielt ein Taxi.

Ein Mann mit einem Buch in der Hand stieg aus.

Vor Schreck fiel ihr Buch auf die Kaffeetasse, deren Inhalt sich über das weiße Tischtuch ergoss.

Seit wann las er Bücher?

Martha Koch konnte nicht glauben, was sie da sah.

Bevor er die Straße überqueren konnte, verließ sie fluchtartig das Cafe`.

Wieder in ihrer Wohnung empfing sie diese fühlbare, fast greifbare, unerträgliche Stille.

Der Alltagstrott hatte sie wieder.

Sie schaute sich noch einmal die Annonce an.

Die Chiffrenummer, 1008, warum war ihr das nicht gleich aufgefallen.

Der Geburtstag und Geburtsmonat ihres Mannes. 

Der Langweiler war zum Hans Dampf in allen Gassen mutiert.

( © Monika Zelle   08. Oktober 2019 )

Land unter

Land unter

Wellen

Schlagen den Strand

Sturm kommt auf

Menschen auf der Hallig

Rüsten auf

Angsterfüllte Augen

Weite Pupillen

Tiere in Not

Die Warft gibt Brot

Knarrende Dielen

Auf dem Dachboden

Feuer lodert im Kamin

Menschen und Tiere verharren

Warten

Auf Land in Sicht

Leuchtturm im Licht

( © Monika Zelle  05.12.2010 )

Donna Clara

Groß war Donna Clara nicht, eher kleinwüchsig, von drahtiger Statur, mit einem hübschen Gesicht, von schwarzen lockigen Haaren umrahmt.

Eine Frau in bestem Alter, die kein Pardon kannte, wenn es um ihre Firma, oder gar um ihren Sohn Giovanni ging.

Sie führte ein hartes Regiment in ihrem traditionellen Familienunternehmen, und der Sohn sollte einmal übernehmen, was ihr verstorbener Mann mit seiner Hände Arbeit aufgebaut hatte.

Noch führte Giovanni mit seinen 30 Jahren ein ausgelassenes, freies Leben.

Wein, Weib und Gesang bestimmten seine Tage.

Manchmal ließ er sich auf dem Weingut blicken, naschte ein paar Trauben und war wieder verschwunden.

Seine Mutter sah es ihm gerne nach. Sollte er doch sein Leben genießen, nachdem er die Ausbildung auf dem Gut erfolgreich abgeschlossen hatte.

Ihre langjährige Sekretärin war in den Ruhestand gegangen, nun hieß es, eine Neue, sicher in Wort und Schrift einzustellen.

Es dauerte nicht lange, und es stellte sich eine junge Italienerin vor.

Elsa, blonde Haare, blaue Augen, beste Zeugnisse.

Donna Clara stellte sie ein.

Von nun an ließ sich ihr Sohn fast jeden Tag im Büro blicken.

Sollte er sich womöglich in die Tippse verguckt haben?

Ein Unding.

Mit Argusaugen verfolgte sie das Geschehen, und merkte schnell, dass sich ihre Vermutung bewahrheitete.

Sie bat ihren Sohn in ihr Büro.

„ Giovanni, es geht nicht, dass du dieser kleinen Elsa nachstellst, sie passt nicht zu uns,

und wenn Du unbedingt arbeiten willst, kümmere Dich um die Ernte!“

Ohne ein Wort verließ der Sohn das Büro seiner Mutter.

Elsa saß mit verweinten Augen an ihrem Platz, und konnte ihre Arbeit nicht mehr ordnungsgemäß ausführen.

Das führte dazu, dass Donna Clara sie entlassen musste.

Es dauerte nicht lange, und Giovanni bat sie um einen Auslandsaufenthalt,

dem sie mit Freude zustimmte.

Sollte er sich in der Ferne die Hörner abstoßen.

Er ging nach Südafrika, wo er seine Weinanbaukenntnisse erweitern wollte.

Doch nach einem Jahr bekam Donna Clara eine Nachricht, die ihr den Boden unter den Füßen wegriss.

Ihr Sohn, ihr Giovanni, war mit seinem Sportwagen auf einer kurvenreichen Straße des Tafelberges tödlich verunglückt.

Sein Körper soll bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sein.

Donna Clara ließ die Urne mit den Überresten ihres Sohnes in die Heimat überführen.

Unter den Trauergästen sah sie Elsa, ganz in schwarz, hochschwanger.

Ihre Spuren verloren sich.

Viele Jahre später entdeckte Donna Clara ein Foto in der Zeitung, auf dem drei Personen abgebildet waren.

Darunter stand:

„Der Sohn von Giovanni und Elsa Bardolino hat beim Autorennen den großen Preis von Kapstadt gewonnen.“

( © Monika Zelle 16.04.2019 )

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tante Rosa

Als meine Schwester Nora und ich zur Welt kamen, glichen wir nicht wie ein Ei dem anderen, obwohl wir Zwillinge waren.

Früh verließ uns der Vater, weil er dieses Leben mit Frau und zwei Kindern nicht aushielt.

Noch wohnten wir in einem großen Haus in einem  Vorort von Wien.

Als das Geld knapp wurde, zogen wir in eine der Mietskasernen in die Stadt.

Schnell merkte ich, dass die Mutter Nora viel mehr in ihren Armen hielt als mich.

Um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, versuchte ich schon als kleines Mädchen

zu helfen, wo ich nur konnte.

Wenn Nora in den Spiegel schaute, sah sie ein Engelsgesicht. Schaute ich in den Spiegel, glotzte mir eine hässliche Fratze entgegen,

Noras Gesicht war ebenmäßig und besonders hübsch.

Früh erledigte ich fast alle im Haushalt anfallenden Arbeiten für meine Mutter und Nora, während die beiden sich in ihrer Schönheit sonnten.

Als wir größer wurden, lehrte meine Mutter mich das Kochen.

Schnell konnte ich viel besser kochen als sie.

Genüsslich verzehrten die beiden die Leckereien, während ich in der Küche schuftete.

Die Lieblosigkeit meiner Mutter ersetzte ich durch essen, und wurde immer dicker.

Eines Tages erklärte mir meine Mutter, dass ich nun nicht mehr mit meiner Schwester Nora und ihr in einem Haushalt leben könnte, weil das Geld nicht reichte.

Ich zog zu meiner Tante Rosa, einer Schwester meines Vaters.

Das Kochen sollte ich aber weiterhin für meine Mutter und Nora erledigen.

Das bedeutete eine Stunde Fußweg jeden Tag.

Meine Tante Rosa wohnte dörflich.

Sie war klein und rundlich, und sehr nett zu mir. Auch mein Vater kam mich nun öfter besuchen.

Tante Rosa hatte einen großen Garten, in dem sie verschiedenerlei Kräuter zog.

Ich bereitete nun wieder jeden Tag das Essen für Nora und meine Mutter zu, die besonders die frischen Salate mit den aromatischen Kräutern schätzten.

Trotzdem ich weiterhin gut aß, bekam mir die frische Landluft, und der einstündige Fußweg jeden Tag sehr gut.

Ich wurde wieder schlank, und meine frische Gesichtsfarbe ließ meine Fratze freundlicher erscheinen.

Meine Schwester und ich waren inzwischen zu Teenies herangewachsen.

Eines Tages sagte meine Tante zu mir:

„ Komm mein kleiner Fratz wir gehen in den Wald, da gibt es eine Stelle wo der Bärlauch wunderbar wächst.

Du wirst sehen, Deine Salate schmecken noch würziger, und wir müssen keinen Knoblauch mehr kaufen.“

Gesagt getan.

Meine Schwester Nora und meine Mutter lobten meine Salate in den höchsten Tönen.

Als ich am nächsten Tag, den Rucksack mit dem Essen auf dem Rücken, die Wohnung meiner Mutter und Nora erreichte, fand ich alle Türen verschlossen.

Ich zwängte mich durch das Kellerfenster, und lief in die Küche.

Meine Mutter und meine Schwester lagen auf dem Fußboden, die Gabeln noch in den Händen.  Beide tot.

Die Salatschüssel auf dem Tisch, zerbrochen.

Entsetzt lief ich zu meiner Tante Rosa zurück.

Als ich ihr von dem Unglück berichtete, lächelte sie nur, und hüllte sich in Schweigen.

Mir war der Tod meiner Mutter und meiner Schwester ein Rätsel.

Viele Jahre später erkochte ich mir einen Stern in meinem Restaurant in Wien.

 

 

 

( © Monika Zelle  30. April 2019 )

 

 

 

 

Die Macht der Worte

Die Macht der Worte.

 

  1. H. Österreicher.

Seine Reden hörten sich an wie Hundegebell.

Mein Kampf.

In diesem Buch hat er mit Worten alle Taten angekündigt.

Wer hat das Buch gelesen?

Worte ohne Taten sind die Mörder des Idealismus?

Was ist Idealismus.

Krieg? Die Ermordung von 6 Millionen Juden?

Von politisch Verfolgten? Zigeunern? Zeugen Jehovas?

„ Wollt ihr den totalen Krieg?“

„ Ja!“, schrien Millionen von Deutschen, und hoben die Hand zum Hitlergruß.

Propagandaminister G. mit seiner demagogischen Rhetorik und den planvoll choreographischen Massenveranstaltungen begeisterte die Menschen.

Lullte sie ein.

Mit der ganzen Kraft seiner Worte.

Überzeugte sie von der Judenverfolgung, obwohl er selbst jüdische Vorfahren hatte.

Der Wegbereiter des Holocausts.

Ein Jongleur der Worte.

Geschichtenerzähler.

Tagebuchschreiber.

Magier.

Er hypnotisierte die Massen.

Er setzte mit der Macht seiner Worte eine Maschinerie in Gang, die nicht mehr aufzuhalten war.

Die meisten Menschen in Deutschland waren arm, hatten nichts zu essen.

Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe?

Das Schicksal des Deutschen Volkes?

Wer nicht die Sprache der Nazis sprach, wurde ermordet.

Sprache?

Keine zärtlichen Worte.

Blutrünstige Worte.

Die Worte von Kriegstreibern und Mördern.

Ein ganzes Volk hat die Worte nicht verstanden.

Sonst kann es nicht angehen, dass so viel Leid durch Worte hervorgerufen wird.

Feige Worte.

Am Ende ein feiger Selbstmord dieser unseligen Figuren, die mit Worten, aber auch mit Taten ein ganzes Land in Schutt und Asche gelegt haben.

Und heute?

Hitlertreue sind mitten unter uns, auch mit Worten:

Der Vorsitzende einer Partei im Bundestag sagte:

„ Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.

 

( © Monika Zelle  08.04.2019 )