Oma Gosch
Heute wollten meine Mutter und ich ihre Mutter, also meine Oma besuchen.
Mitten in der Woche. Ich freute mich sehr über diese willkommene Ablenkung, obwohl ich auch ebenso gerne draußen mit meinen Freundinnen Meyersche Brücke oder Kibbel Kabbel spielte..
Meine Mutter hatte unser Sonntagszeug aus dem Schrank geholt, und uns fein herausgeputzt. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, eine weiße Bluse, dazu dunkelblaue Pumps und Seidenstrümpfe mit Naht. Ich einen dunkelblauen, von ihr selbst genähten Faltenrock, dazu eine weiße Rüschenbluse, dunkelblaue Lackschuhe und weiße Söckchen. Sozusagen im Partnerlook, wie man heute zu sagen pflegt.
Zu meiner Oma fuhren wir immer mit der Straßenbahn der Linie 8 in die Schanzenstraße.
Bei dem Zahlmeister kaufte meine Mutter eine Fahrkarte für sich, klack klack klack trommelte es, wenn er die Tasten seiner Eisenkasse anschlug, die er um die Schulter trug, um das Wechselgeld herauszugeben. Ich fuhr umsonst. Wie immer drückte ich meine Nase an der Glasscheibe platt, die mich und den Straßenbahnschaffner trennte. Ich schaute ihm zu, wie er die Kurbel in Schwung brachte. Zu meiner großen Freude bimmelte er drei Mal, obwohl keine Gefahr in Verzug war.
Meine Oma bewohnte in einem Hinterhof, zusammen mit ihrem Sohn Fiete, seiner Frau Rosi und einem Chow Chow eine kleine Wohnung in der 2. Etage. Vor dem Chow Chow hatte ich Angst, weil er meinen Cousin Herbert schon einmal gebissen hatte. Am meisten freute ich mich auf meine Tante Rosi, die mit mir spielte, wenn wir sie besuchten. Wenn sie mich auf ihre burschikose, herzliche Art mit ihren rundlichen Armen an ihren pummeligen Körper drückte, empfand ich eine tiefe Zuneigung, diese Wärme, mit der sie mich umfing, die ich sonst nur bei meinem Vater empfand, spürte in mir noch lange nach. Ich genoss ihren Duft nach Niveaseife, bis er sich allmählich verflüchtigte. Tante Rosi war ein ungeliebtes Familienmitglied. Onkel Fiete hatte sie in Magdeburg kennen gelernt. Es wurde gemunkelt, sie habe dort als Prostituierte gearbeitet. Onkel Fiete war ein stiller, schüchterner Mann, der gerne Leberwurstbrot aß. Meine Oma war nicht so, wie man sich eine Oma vorstellte. Sie hat mich nie in den Arm genommen. Wenn sie uns zu Hause besuchte, brachte sie mir Obst statt Süßigkeiten mit. Aus Erzählungen wusste ich, dass sie eigentlich immer nur in ihrer Küche ohne Fenster stand, und entweder kochte oder Wäsche wusch. Mein Opa und sie hatten 6 Kinder, 5 Söhne und eine Tochter.
Meine Mutter und ich saßen nun fröhlich in der Straßenbahn, als eine ältere Dame mich fragte, ob ich ein Bonbon wollte. Fragend schaute ich meine Mutter an, denn ich durfte eigentlich nichts von fremden Leuten annehmen. Meine Mutter nickte.
Ich nahm das Bonbon, und roch selbstvergessen an dem bunten Papier. Meine Mutter stieß mich mit dem Fuß an. Sie schaute böse. Meine Mutter konnte eisig schauen mit ihren großen blauen Augen. Ich wickelte das Bonbon aus, und hielt es mir abermals unter die Nase. Es roch nach Erdbeere und Rose, zum Glück nicht nach Honig oder Eukalyptus. Dann würde ich das Bonbon nämlich wieder in das Papier einwickeln und in die Jacke meines Anoraks versenken.
Ich hatte das Bonbon gerade in den Mund gesteckt, als meine Mutter abrupt aufstand, und mich von meinem Sitz zog.
An der nächsten Haltestelle stieg sie mit mir aus der Straßenbahn aus.
Sie schlug mir mitten ins Gesicht. Ich sah nur noch, wie die Dame in der abfahrenden Straßenbahn mit dem Kopf schüttelte.
„ So, wir fahren jetzt nicht mehr zu Deiner Oma! Wie kannst Du nur an dem Bonbon, dass man Dir schenkt, riechen, so etwas tut man nicht, was soll denn die Dame von Dir denken!“
Zuerst spürte ich die Backpfeife gar nicht, weil das Bonbon mit dem herrlichen Geschmack nach Erdbeere und Rose gerade auf meiner Zunge zerfloss. Dann zerkaute ich es vor Schreck, und schluckte es hinunter, versuchte dann aber, dem Geschmack auf meinem Gaumen und in meiner Nase nachzuspüren.
Mit der entgegenkommenden Straßenbahn der Linie 8 fuhren wir wieder nach Hause.
Ich befühlte meine Wange, sie brannte. Ich heulte die ganze Zeit auf der Rückfahrt, obwohl ich mich eigentlich auch auf Kibbel Kabbel und die Meyersche Brücke freute.
Die Angewohnheit, am Essen oder anderen Dingen zu riechen, bevor ich ihnen vertraute, konnte meine Mutter mir nicht austreiben.
Viele Jahre später verstand ich ihre Wut über die Intensität meiner Sinnlichkeit. Sie war während des 2. Weltkrieges an Typhus erkrankt, und hatte dadurch ihren Geruchs-und Geschmackssinn verloren.
( © Monika Zelle 03.10.2023 )