Hafentreppe

Hafentreppe

Wie jeden Tag dreht Lina S. ihre Runde, vorbei am Seewetteramt auf dem Balkon, wo sie stets Fotos vom Hafen macht. Ihr geschulter Blick erfasst ein Kreuzfahrtschiff im Dock von Blohm & Voss, das sie sofort ablichtet. Rechts das neue Riversidehotel.

Sie schlägt nicht wie sonst den Weg zu den Landungsbrücken ein, sondern geht rechts in die Davidstraße. 

Plötzlich hört sie einen Schrei. Gegenüber der Herbertstraße bleibt sie wie angewurzelt stehen. Das Tor öffnete sich. Zwei Luden schubsen eine Frau in den Rinnstein und schlagen auf sie ein. 

Dann entdecken sie Lina und starren sie an. Sie dreht sich langsam weg, und setzt sich in Bewegung. Richtung Reeperbahn. Im Blickwinkel sieht sie, dass die Luden sie verfolgen. So schnell es geht rennt sie um die Ecke zum St. Pauli Theater. Das Theater ist geschlossen. Sie versteckt sich im Eingang des Theaters. Die Luden rennen an ihr vorbei. Schnell geht sie ein paar Schritte nach links, die Stufen hoch in die Davidwache. 

Lina S. schildert, was sie gesehen hat. Die Wachhabenden versichern ihr, dass so etwas hier jeden Tag vorkommt, und die Zuhälter würden sich schon wieder beruhigen, und einer alten Frau ohnehin nichts tun. Sie solle man jetzt nach Hause gehen. 

Als Lina S. die Wache verlässt, sind Weit und Breit keine Luden zu sehen. Um diese Zeit ist selbst der Kiez menschenleer. Soll sie jetzt die Reeperbahn entlang nach Hause gehen, oder lieber zurück durch die Davidstraße am Hafen entlang. Sie entscheidet sich für die Davidstraße. Die Nutte ist verschwunden. Als sie gerade die Hafentreppe hinunter gehen will, hört sie einen schrillen Pfiff. Als sie sich umdreht, sind sie wieder da, die Luden.

Lina geht so schnell sie kann, und das ist nicht wirklich schnell, die Treppe hinunter zu den Landungsbrücken. Weil es in Strömen regnet, sind auch hier wenig Menschen unterwegs. Ein kurzer Blick nach hinten. Die Luden stehen oben an der Treppe und winken. 

Als Lina die Brücke 10 erreicht hat, sind sie plötzlich hinter ihr, packen sie bei den Armen, und ziehen sie Richtung Kaimauer, so als wollten sie sie ins Hafenbecken stoßen.

Die Passanten gehen vorüber. Sie denken vielleicht die Männer machen einen Spaß.

Dann reißen die Luden Lina S. zurück, ihre Münder verziehen sich zu einem hämischen Grinsen, ihre Augen blicken eiskalt auf sie herab. Dann lassen sie sie los, und gehen ihrer Wege.

Kreidebleich wankt Lina S. den Kuhberg hinauf nach Hause. An Fotografieren ist heute nicht mehr zu denken. 

Im Treppenhaus angekommen schließt sie mit zitternden Fingern die Eingangstür ab.  Als sie später noch zu ihrem Briefkasten geht, um nach der Post zu schauen, entdeckt sie darin einen blutverschmierten Briefumschlag. Als sie ihn öffnet, liegt darin ein abgeschnittener Finger mit einem schwarzlackierten Fingernagel, auf dem Finger steckt ein Totenkopf. 

Lina ruft bei der Davidwache an. Dieselben Wachhabenden raten ihr, den Finger einfach in den Müll zu werfen, niemand würde ihn vermissen. 

Am nächsten Tag liest sie im Hamburger Abendblatt, das im Hafenbecken eine weibliche Leiche mit nur drei Fingern und einem Daumen an der linken Hand gefunden wurde. Von dem Täter oder der Täterin fehle jede Spur. 

( © Monika Zelle 13. März 2023 )

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