Ella
Das Stimmengewirr der Kollegen machte sie schwindelig.
Oder doch der Tanz mit Mario, mit dem sie soeben noch durch den Saal geschwebt war?
Hastig trinkt Inga den Rest des Rotweines aus.
Hatte sie vielleicht zu viel getrunken?
Er war ihr ja schon des Öfteren aufgefallen, wenn er in das Büro der Personalstelle stürmte, als wäre er auf der Flucht, kurz an ihrem Schreibtisch vorbeihuschte, ihr tief in die Augen schaute, um dann seine Angelegenheiten bei ihrem Chef zu erledigen.
Und nun hatten sie zusammen getanzt.
Mario und sie.
Auf der jährlichen Weihnachtsfeier des Amtes.
Immer ein rauschendes Fest mit köstlichem Essen, und Alkohol, der in Strömen floss.
Nicht nur auf den Weihnachtsfeiern.
Hatte er sie nicht ein bisschen zu dicht an sich gezogen?
Der große schlanke Mario mit den tiefschwarzen Haaren und Augen so blau und kühl wie ein Bergsee.
Ihre Augen waren ineinander versunken.
Ihre Gefühle fuhren mit ihr Achterbahn.
Inga saß auf ihrem Stuhl und starrt vor sich hin.
Und schon steht Mario wieder vor ihr, wie aus dem Nichts, nimmt ihre Hand, und führt sie auf die Tanzfläche.
„ Lass uns hier verschwinden!“ flüsterte er ihr ins Ohr, während er sie noch fester an sich zog.
„ Ich kenne ein Bar hier in der Nähe, wo wir uns unterhalten, und weiter tanzen können.“
Inga war wie in Trance.
Unter einem Vorwand verließen sie beide getrennt die Weihnachtsfeier, und trafen sich vor dem Amt auf der Straße wieder.
Es regnete in Strömen.
Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos tanzten in den Pfützen.
Mario legte ihr seinen Mantel um, sie überquerten schnell die Straße, und ehe sie sich versah, befanden sie sich in der kleinen Bar, die ihr am hellichten Tag noch nie aufgefallen war.
Sie tranken und tanzten bis in die frühen Morgenstunden.
Inga wusste nicht, wie sie in ihr Bett gekommen war, als ihr kleiner Sohn sie morgens weckte.
Es duftete herrlich nach frisch aufgebrühtem Kaffee.
Sie dachte an die Küsse von Mario, und sank fast ohnmächtig wieder in ihre Kissen zurück.
Es war Samstag.
Später würde sie mit ihrer Familie wie immer zu ihrer Mutter fahren.
In den nächsten Wochen kam Mario fast jeden Tag zu ihr ins Büro.
Sie tauschten unauffällig ein paar Phrasen aus.
Ihre Blicke sprachen Bände.
Inga wurde krank. Sollte sie sich den Magen verdorben haben?
War sie etwa schwanger?
Das konnte doch nicht sein!
Und wer war dann der Vater!
Auch Mario fiel aus allen Wolken.
Er würde gerne Vater ihres Kindes sein, behauptete er.
Seine Frau bekäme keine Kinder.
Nach jahrelangen Versuchen hätten sie es aufgegeben, auf einen Kindersegen zu hoffen.
Wieder fuhren Ingas Gefühle mit ihr Achterbahn.
Nein, das Kind konnte unmöglich von Mario sein.
Oder doch?
Und.
Könnte sie ihren kleinen Sohn und seinen Vater für Mario und dieses Kind verlassen?
Nein niemals.
Es musste eine andere Lösung her.
Auch Mario wollte seine Frau, die er über alles liebte, nicht für Inga verlassen.
Nachdem ihre Tochter geboren war, ließ Inga sich für Jahre beurlauben.
Sie besuchte ihre Kollegen oft im Amt.
Mario machte dann seine Mittagspause, und sie gingen zusammen mit der kleinen
Ella an der nahe gelegenen Alster spazieren.
Ella quietschte vor Freude, wenn Mario Steine ins Wasser warf, und die Wellen sich verschluckten. Die Sonnenstrahlen glitzerten wie kleine Sterne auf dem Wasser,
genau wie Ellas Augen, so blau und kühl wie ein Bergsee.
( © Monika Zelle 08.03.2022 )