Eingekleidete Aufgaben

Eingekleidete Aufgaben

Fröhlich sprang Lina die Treppen hinauf. Endlich Schulschluss. Sie war noch mit ihrer Freundin Margrit verabredet, im Kino. Der Film „ Christine“ mit Romy Schneider lief im Rondeel in der Dithmarscher Straße. Sie freute sich auf den Film mit ihrer Lieblingsschauspielerin.

Als Linas Mutter die Tür der Wohnung in der 3. Etage des Mietshauses öffnete, fiel es ihr siedend heiß ein. Ihre Mathearbeit. Wieder einmal eine Sechs.

„ Na und“, dachte sie bei sich, dafür konnten die anderen Klassenkameraden ihr in den Fächern Englisch, Deutsch und Schwimmen nicht das Wasser reichen, in allen hatte sie eine Eins.

Sie klingelte. 

Ihre Mutter öffnete. In ihrer frisch gebügelten Schürze sah sie zum anbeißen aus.

Sie bügelte jeden Tag, das Glas Coca Cola stand wie immer auf dem Bügelbett.

„ Hast Du deine Mathearbeit heute wieder bekommen Lina?“

„ Nein, wie so?“, log sie, „ Herr Böhme hatte noch keine Zeit, die Arbeit zu korrigieren.“

„ Na ja, sie wird wohl diesmal besser ausgefallen sein, wo wir doch schon so lange die eingekleideten Aufgaben üben.“

Summend wand sich die Mutter wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung zu.

Im Radio spielte gerade „ Dein ist mein ganzes Herz“ von Rudolf Schock, dem Lieblingstenor ihrer Mutter.

Lina machte fix ihre Hausaufgaben, und wollte gerade aus der Tür huschen, da rief ihre Mutter:“ Wo willst Du denn hin! Wir wollten doch heute zu Tante Erna rüber, sie hat Geburtstag!“

„ Ich bin mit Margrit im Kino verabredet“, rief sie, und weg war sie.

Ihre Mutter rief ihr aus dem Fenster noch zu:“ Du kannst ja nach kommen !“

Lina winkte noch kurz herauf, dann war sie um die Häuserecke verschwunden.

Als sie am Abend nach Hause kam, noch Tränen in den Augen, weil der Film so traurig war, öffnete ihr Vater die Wohnungstür. Schweigend sah er Lina an.

Er nahm sie nicht wie sonst in den Arm.

Die Mutter saß in der Stube  auf dem Sofa. Vor ihr die Mathearbeit.

„ Hast Du also in meinem Ranzen gesucht!“, sagte Lena etwas vorwurfsvoll, „ Das tut man nicht!“

„ Man lügt aber auch nicht“, sagte ihre Mutter, und wie willst Du im Leben bestehen, wenn Du nicht eins und eins zusammen zählen kannst!“

Als Lina ihren Vater anschaute, der sich inzwischen in den Sessel gesetzt hatte, schüttelte er nur mit dem Kopf.

Er sprach eine ganze Woche nicht mit ihr.

( © Monika Zelle 16.03.2021 )

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