Lektüre

Als die Staatsanwältin Luise Kessler sich morgens an ihren Schreibtisch setzt, traut sie ihren Augen kaum.

Schon wieder ist die Seite ihres Buches verschlagen, in dem sie jeden Tag in der Mittagspause liest, um sich von den anstrengenden Gerichtsverhandlungen abzulenken.

Wer liest in ihrem offenen Buch? 

Wütend sucht sie die Seite, auf der sie die letzten Zeilen gelesen hatte.

Das konnte doch nicht wahr sein, dass irgendjemand sich erdreistete in ihrem eigenen Buch zu lesen.

Die Tür zu ihrem Büro fliegt auf.

Ihre Sekretärin Martha stellt ihr die morgendliche Teetasse mit einem Keks auf dem Untertellerrand auf den Schreibtisch.

Der blumige Duft des Tees beruhigt ihre angespannten Nerven.

„ Sagen Sie mal Martha, wissen Sie, oder haben Sie gesehen, wer hier wohlmöglich an meinem Schreibtisch sitzt, um in meinem Buch zu lesen? Immer ist die Seite verschlagen, auf der ich zuletzt gelesen habe!“

„ Nein, das weiß ich leider nicht. Wenn ich morgens das Büro betrete, scheint es mir nicht so, als ob hier schon jemand in den Räumen gewesen ist.“

Luise Kessler nimmt einem großen Schluck aus der Tasse, und verbrennt sich die Zunge.

Laut fluchend springt sie auf, und holt sich ein Stück Eis aus dem Eisfach ihres kleinen Kühlschranks.

„ Sagen Sie bitte Herrn Horstmann, er soll in mein Büro kommen.“

Leise betritt der Polizist, der nachts die Kontrollgänge im Gerichtsgebäude durchführt, das Büro der Staatsanwältin. Tiefe Ränder umschatten seine Augen, er wollte gerade nach Hause gehen.

„ Wissen Sie, ob sich in der Nacht oder frühmorgens jemand in meinem Büro aufhält, um in meinem aufgeschlagenen Buch zu lesen? 

„ Nein, antwortet Horstmann kurz angebunden, nichts gesehen.“

„ Aber wozu drehen Sie hier Ihre Runden, wenn Ihnen nichts auffällt!“ 

„ Vielleicht sollten Sie Ihr offenes Buch zuschlagen, und vorher ein Lesezeichen hineinlegen?“

Mit diesen Worten verlässt der Polizist unaufgefordert das Büro der Staatsanwältin.

Diese kocht vor Wut, und verschluckt sich an dem Heidesandkeks, den sie sich ganz in den Mund gestopft hat.

„ Na, denen werde ich es zeigen, ich werde schon rausbekommen, wer sich hier an meinem Buch vergreift.

Am nächsten morgen betritt Luise Kessler schon gegen 6.00Uhr früh das Gerichtsgebäude.

Ein bisschen mulmig ist ihr schon. Kein Schreibmaschinengeklapper zu hören.

Wie ein Geisterhaus erscheinen ihr die heiligen Hallen.

Sie nimmt nicht den Paternoster sondern die Treppe.

Auf halbem Weg nach oben taucht vor ihr eine gebückte Person auf, die sich an Eimer und Feudel zu schaffen macht.

„ Putzen Sie hier jeden morgen?“

„ Ja.“

Putzen Sie auch das Büro der Staatsanwältin Kessler?

„ Ja, da putze ich besonders gern, und mach dort meine Kaffeepause!

„ Und? Ist Ihnen vielleicht einmal aufgefallen, ob jemand in meinem aufgeschlagenen Buch auf dem Schreibtisch liest?“

Das Gesicht der Putzfrau wird puterrot.

„ Ja, ähm“, weiter kommt sie nicht. Der Staatsanwältin schwant böses.

„ Lesen Sie etwa in dem Buch? 

Die Putzfrau steht auf. Sie hält es auf ihren Knien nicht mehr aus, obwohl es ihr in dieser Situation angemessen erscheint, weiter zu knien. Sie überragt die Staatsanwältin um einige Zentimeter. 

„ Aber ich fand das Buch so interessant, weil meine Tochter in der Schule gerade das Thema Judenverfolgung durchnimmt, und mit ihrer Klasse ihre Verhandlungen besucht! Da wollte ich mitreden können. Es handelt von einer Bücherdiebin, einem Kind, deren Eltern im Dritten Reich einen Juden versteckt haben.

„Also Sie sind das, und dann haben Sie die Seite auch noch mit einem Kaffeefleck verschmutzt! Ich muss doch sehr bitten!“

Eilig steigt Luise Kessler die Treppen hinauf zu ihrem Büro.

Eine Putzfrau liest in ihrem Buch, und dann der Kaffeefleck, das hat Konsequenzen.

( © Monika Zelle 01.10.2019 )

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