Das Kind in Dir muss Heimat finden…
Du mein stilles Tal…..
Der Brotbeutel hängt an der Pforte, damit der Bäckerwagen an unserem Grundstück anhält.
Ich weiß gar nicht mehr, warum meine Mutter die Fußmatten unserer Heidehütte vor die Tür warf. War es, weil sie sich vorher mit dem heißen Kaffeesatzpulver den Unterarm verbrannt hatte? Oder weil ihr Kronensohn so lange nicht mehr zu Besuch war?
Ihre Wut entlädt sich, als sie auf den Fußmatten herumtrampelt, um den Dreck daraus zu entfernen. Oder es kam auch der Teppichklopfer zum Einsatz. Wie oft tanzte der auf meinem Rücken.
Der Bienenstich von der Bäckersfrau bei einer Tasse guten Bohnenkaffee würde meine Mutter am Nachmittag besänftigen.
Meine Onkel schufteten gerade an den Schweißgeräten der Rohre für die neue Schwengelpumpe.
Die dicken Frauen mussten sich später auf das dafür konstruierte Holzkreuz setzen, um die Rohre in die Erde zu rammen.
Auch ein richtiges Wohnhaus errichteten sie mit ihrer Hände Arbeit für meine Tante Gertrud, der das Heideland gehörte, und die aus 50 Pfennig eine D Mark machen konnte, indem sie sich bei meiner Mutter Eier, Milch, oder sonstige Lebensmittel auslieh, die nie wieder zu uns zurückkehrten.
Meine Eltern hatten nur die kleine Holzhütte.
Ich war glücklich mit meinem Kletterbaum, oder wenn ich mich, im Zittergras liegend, in die sich im Wind wiegenden Wipfel der Kiefern träumte.
Auch ich schaffte es mit meiner Familie nur zu einem kleinen Holzhäuschen, jedoch nicht auf eigenem Grund und Boden gebaut, immerhin mit fließendem Brunnenwasser und Strom.
Ich weiß gar nicht, warum die Kinder von Tante Gertrud meiner inzwischen 80jährigen Mutter nicht mehr beim Einkaufen helfen wollten.
Von heute auf morgen zog meine Mutter in ihr Zuhause nach Hamburg.
Sie kehrte nie wieder auf ihr Heideland zurück.
Fern von Zittergras und Kletterbaum pflegte ich sie bis zu ihrem Tod.
Meinen geliebten Vater hatte sie 30 Jahre überlebt.
Als wir ihn das letzte Mal besuchten, sagte er zu meinem Bruder:
„ Denk an Deine Schwester!“
Damit meinte er das Heideland.
Nun stehe ich hier, selbst fast 80 Jahre alt, vor einer mit Kettenschlössern verrammelten und verrosteten Pforte, an der ich das Schild mit meinem Mädchennamen entdecke. „ Klein“, steht dort in großen Druckbuchstaben. Ich schaue von außen auf Kletterbaum und Zittergras, und denke an meinen Bruder.
Lebt er noch? Einmal hat er mich in seinem Porsche mit in den Freihafen genommen.
Eine Wahnsinnsfahrt. Der Porsche keine Familienkutsche, die er eigentlich gebraucht hätte.
Oder die Fahrt auf dem Sozius seiner NSU Prinz. Einmal um den Häuserblock in Hamburg.
Da wartete schon sein Freund Kalle Schnoor…
Seit mein Bruder unser Heideland verscherbelt hat, habe ich ihn weder gesehen, noch etwas von ihm und seiner Familie gehört.
Tief atme ich die würzige Waldluft ein, und wandere noch einmal auf den Katzenberg.
Am Horizont die goldgelben Weizenfelder von Wesel….
Ich rufe:“ Wer ist der Bürgermeister von Wesel! Esel! Hallt das Echo…
Auf der neuen Bank war nicht mehr das eingeritzte Herz mit den Buchstaben M+B zu sehen.
Die windschiefe Birke lädt zum Klettern ein, nichts zu machen….
Ich gehe hinunter zur Quelle, über die kleine Brücke, noch einmal mit den Füßen im Büsenbach waten. Das glasklare Wasser streichelt meine Füße.
Soll ich mir ein Stück Borke suchen, es zu einem Schiffchen schnitzen, mit einem Stock als Mast, und einem Blatt als Segel, und es in dem Bach noch einmal fahren lassen?
Ich wandere vorbei an der Heidschnuckenherde, die dafür sorgt, dass die Heide in jedem Jahr wieder blüht, dem Hütehund,der die Herde zusammenhält, und dem Schäfer, der ihn mit einem unüberhörbaren Pfiff zu sich befiehlt. Ich höre noch das Getrappel der Hufe, wenn die Schnucken an unserer Pforte vorbeilaufen, und wir Kinder sie fröhlich begrüßen….
Im Winter entlässt die Quelle ihr überschüssiges Wasser ins Tal.
Ich höre unsere Kinderstimmen. Schreiend gleiten wir mit den Schlittschuhen über die schneebedeckten zugefrorenen Flächen. Wir sind glücklich. Gegenüber der Schafstall.
Drinnen die blökenden Schnucken in Erwartung des Frühjahrs und ihrer Lämmer….
Von Kindheitserinnerungen überwältigt, laufe ich durch mein stilles Büsenbachtal zu Bahnstation….
Ich denke an das Lied, das meine Mutter immer sang:
„1. Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus;
da zog ich manche Stunde ins Tal hinaus.
Dich, mein stilles Tal, grüß ich tausend mal!
Da zog ich manche Stunde ins Tal hinaus.- 2. Müsst aus dem Tal ich scheiden, wo alles Lust und Klang;
das wär mein herbstes Leiden, mein letzter Gang.
Dich, mein stilles Tal, grüß ich tausendmal!
Das wär mein herbstes Leiden, mein letzter Gang. - 3. Sterb ich – in Tales Grunde will ich begraben sein;
singt mir zur letzten Stunde beim Abendschein:
Dir, o stilles Tal, Gruß zum letzten Mal!
Singt mir zur letzten Stunde beim Abendschein.“
Mir kommen die Tränen.
Mitleidig schauen die Fahrgäste im Triebwagen Richtung Buchholz mich an.
Kletterbäume und Zittergras fliegen vorbei…….
( © Monika Zelle 16.08.2024 )