2014
Wir schreiben das Jahr 2014.
Die deutsche Nationalmannschaft hat im Juli dieses Jahres die Fußballweltmeisterschaft gewonnen. Auf den Straßen ist die Hölle los. Das laute Hupen der Autos ohrenbetäubend. Feuerwerkskörper und Leuchtraketen fliegen durch die Luft. Das Fahnenschwenken der Fans erinnert an das 3. Reich.
Herr Voss tritt auf den Balkon, beugt sich ein wenig über die Brüstung, als ein Schuss fällt.
Er taumelt, schreit: „ Hilfe, Hilfe!“
Seine Frau ist sofort zu Stelle, führt ihn zum Sofa, und rennt zum Telefon.
„ 14. Revier Klemmer, wer spricht?“
„ Ist dort das 14. Revier?“
„ Wer spricht?“
„ Voss, mein Name ist Frau Voss, hier ist gerade ein Schuss gefallen, kommen Sie schnell!“
„ Frau Voss, nun beruhigen Sie sich mal!“
„ Beruhigen, ich soll mich beruhigen? Mein Mann sitzt auf dem Sofa und kann nichts mehr hören, hat Schmerzen, da soll ich mich beruhigen? Machen Sie Witze?“
„ Buchstabieren Sie mal ihre Adresse!“
„ Sonnenallee 2, wie Sonne und Allee!“
Es knackt in der Leitung.
Verständnislos schüttelt der Polizist Klemmer den Kopf. Langsam steht er auf, zieht seine Uniformjacke an, darunter vorsichtshalber eine schusssichere Weste, man weiß ja nie, sichert seine Schusswaffe, und informiert die Kollegin Sander.
Als der Polizist und seine Kollegin nach einer Stunde bei den Voss eintreffen, sitzt Herr Voss mit starrer Mine auf dem Sofa. Seine Frau sitzt neben ihm und zittert.
„ So, Herr Voss, nun erzählen Sie mal genau, was passiert ist!“
„ Sie sehen doch, wie es meinem Mann geht!“
„ Können Sie den Hergang schildern Frau Voss?
„ Nein, ich habe nur den Schuss gehört, weil ich gerade Sekt eingeschenkt habe!“
„ Also, mein Mann ist auf den Balkon gegangen, und muss sich über die Brüstung gebeugt haben, als von der unteren Wohnung des Nachbarn ein Schuss abgefeuert wurde!“
„ Der Nachbar?“
„ Das macht der immer, wenn die deutsche Nationalmannschaft ein Fußballspiel gewinnt!“
„ Haben Sie denn schon einen Rettungswagen gerufen?“
Das Funkgerät der Polizistin Sander piept.
„ Peter 14, was gibt`s ?“ Ok wir kommen!“
„ Tut uns leid, wir müssen, es gibt eine Schlägerei auf St. Pauli!“
„ Und was ist mit dem Nachbarn?“
Der Polizist und seine Kollegin verlassen eilig die Wohnung der Voss.
Ein Protokoll wurde nicht aufgenommen.
Die Voss sind alleine mit dem Auto ins Krankenhaus gefahren. 4 Stunden warteten sie auf den behandelnden Facharzt, der von außerhalb kam.
Der Nachbar wurde zwar angezeigt, aber die ganze Geschichte ist später im Sande verlaufen. Das Verfahren wurde wegen Geringfügigkeit und mangels Beweises eingestellt.
Das rechte Ohr von Herrn Voss ist vollständig taub.
Der Nachbar und die Voss gehen seitdem wortlos und grußlos aneinander vorbei.
( © Monika Zelle 17.10.2023 )