Yesterday
Flachsland, Haus der Jugend, unser Haus der Jugend, unsere zweite Heimat.
Jeden Tag fanden wir uns nachmittags dort ein, spielten Tischtennis und Billard.
Meistens spielte ich mit Michael, Sanne und Jürgen zusammen.
Eines Tages hing ein Plakat an der Wand.
Am Dienstag, dem 17. Mai im großen Saal 1. Stock findet ein kostenloser Tanzkurs statt.
Wer noch nicht tanzen kann, ist herzlich eingeladen. Ich konnte tanzen, aber kostenlos?
Ist ja toll, da gehe ich hin. Wir gingen alle hin.
Erwartungsvoll saßen die Mädchen auf ihren Stühlen, herausgeputzt, als wollten sie in die Oper. Gespannt schauten wir auf die Jungen gegenüber. Alle im Anzug mit Schlips und Kragen.
Der Tanzlehrer hob die Hände, und bat uns aufzustehen.
Seine Frau saß am Klavier. Er gab ihr ein Zeichen. Eine Melodie erklang. Ein langsamer Walzer, dachte ich bei mir. Alle Mädchen wurden aufgefordert. Nur ich nicht. Das war ja klar. Zu klein für diese Welt, und ich sah aus wie ein Kind. Der von meiner Mutter selbst genähte Faltenrock, viel zu lang, obwohl Mini modern war.
Ich schaute noch eine Weile zu, wie sich die Pärchen ungelenk drehten und schloss meine Augen.
Zwei Flügeltüren öffneten sich, ein großer Blonder, muskulös, in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug schritt durch den Saal, steuerte direkt auf mich zu, und forderte mich auf. Mit zitternden Knien erhob ich mich und sank in seine Arme.
Das Lied der Beatles „ Yesterday all my troubles seems so far away“ entsprang dem Klavier, ich schmolz dahin. Wir schwebten durch den Saal. Als das Lied endete, klatschten alle. Mein Tänzer verbeugte sich formvollendet. Ich machte einen tiefen Knicks, so etwas wie einen Hofknicks bei Queen Elizabeth. Die Tanzstunde war beendet. Der Schönling führte mich zur Garderobe, half mir in meinen roten Mantel, hielt mir die Tür auf, und wies mit seinem Zeigefinger auf einen roten Porsche Cabrio.
Mit einem Satz sprang er hinein, zeigte auf den Beifahrersitz. Ich stieg ein. Er fuhr los. Ein lauwarmer Fahrtwind verfing sich in meinen lockigen schwarzen Haaren, er reichte mir eine Sonnenbrille. Bei herrlichem Frühlingswetter umrundeten wir die Alster. Er parkte sein Cabriolet am Feenteich.
Wir gingen in das Restaurant von Bobby Reich, den er überschwänglich umarmte und herzte. Ich ließ meinen Blick über die Alster schweifen, und bewunderte die vielen Segelschiffe, die auf den sonnendurchfluteten Wellen rauschten.
Ich war im siebten Himmel.
Später spielten Michael, Sanne, Jürgen und ich noch Billard, wobei ich jede Kugel ins Loch schoss.
Ich war in Siegerlaune, als wir durch die engen Straßen des Dulsberg, vollkommen baumlos, vorbei an den hohen Mietskasernen, mit ihren kleinen schäbigen Gärten, nach Hause gingen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Ruinen, einst erbaut von Kurt Schumacher, wieder aufgebaut. Aus zwei Wohnungen wurden drei gemacht. Viele Menschen suchten händeringend Wohnraum. Wir wohnten alle in einem Wohnblock mit Innenhof, einem Aschhaus, Sandkiste und Turnreck. Als wir noch kleiner waren, bewahrten uns unsere Mütter in diesem Hof auf, wo sie uns vom Fenster aus beobachten konnten. Die Türen zum Hof waren stets abgeschlossen.
Doch dann kamen die Zeiten wo wir ausbrachen aus dem Gefängnishof.
Als Schlüsselkinder konnten wir ihn wann wir wollten verlassen, und in die sogenannte Freiheit verschwinden.
( © Monika Zelle 07.03.2023 )