Das Salz in der Suppe
Es war noch früh, als ich das Büro unseres Referates betrat.
Luise war schon da.
Sie saß an ihrem Schreibtisch, und starrte vor sich hin.
Nach und nach trafen meine Kolleginnen ein. Hatten sie Luise überhaupt begrüßt? Mir hatten sie kurz zugenickt. Jetzt tuschelten sie miteinander, und schauten auf Luise.
Das Telefon klingelte.
Luise beantwortete die Fragen des Anrufers oder der Anruferin immer kompetent, präzise und sachgemäß, ganz nach Recht und Gesetz. Sie konnte Briefe und E-Mails mit ihrem perfekten Schreibstil sogar auf Englisch beantworten. Wenn Luise sich aus der Teeküche einen Kaffee holte, fragte sie uns meistens, ob sie einen Kaffee mitbringen solle. Sie bekam keine Antwort.
Von mir schon.
Warum verhielten sie sich so? Mit mir plauderten sie über Gott und die Welt.
Dann sagten sie zu mir, dass sie sich mit Luise und mir zur Mittagspause verabreden wollten.
Als Luise mit ihrem Kaffee zurückkam, taten sie plötzlich freundlich und zugewandt, und fragten sie, ob sie wüsste, was es heute in der Kantine zu essen gab.
Erstaunt schaute Luise sie an und stotterte:“ Königsberger Klopse.“
„Wollen wir zusammen zur Mittagspause gehen?“, fragten die beiden sie.
Unsicher schaute Luise zu mir herüber.
„ Ich komme auch mit“, sagte ich. Luise nickte.
Um punkt 12h trafen wir uns vor dem Eingang der Kantine. Alle entschieden sich für die Königsberger Klopse.
„ Oh, ist das fade, ich brauche Salz!“, rief die eine Kollegin, griff nach dem Salzfass, und streute etwas über ihr Essen. „ Du auch?“, fragte sie Luise.
Als diese gerade verneinte, hielt die Kollegin das Salzfass über Luises Essen, der Deckel löste sich.
Ich sah Luise nur noch aufspringen und fluchtartig den Raum verlassen.
In den nächsten Tagen vermisste ich ihre warme Stimme, ihr gepflegtes Äußeres, ihr hübsches vertrautes Gesicht.
Meine beiden Kolleginnen waren bester Laune.
Ich hätte meine Referatsleiterin fragen können, was mit Luise sei, oder sie anrufen.
Die Kolleginnen meinten sarkastisch:“ Ach die spielt doch nur wieder krank!“
Es dauerte eine Weile, bis Luise wieder an ihrem Arbeitsplatz saß. Berge von Akten türmten sich vor ihr auf. Ich alleine hatte es nicht geschafft, sie abzuarbeiten.
Luise empfand es glaube ich als angenehm, sich hinter ihren Akten zu verschanzen, die Kolleginnen sprachen ohnehin wieder nicht mit ihr.
Manchmal traf Luise Einzelfallentscheidungen, für die sie sich dann bei der Referatsleitung rechtfertigen musste. Sie erhielt Dankesschreiben von jungen Ehepaaren, die gerade Eltern geworden waren, mit einem Foto des Neugeborenen.
Luise lächelte dann ein Lächeln, wie ich es noch nie an ihr gesehen hatte.
Bis heute weiß ich nicht, was geschehen war, dass Luise gar nicht mehr zur Arbeit erschien.
Eines Tages entdeckte ich am schwarzen Brett eine Anzeige.
„ Unsere geliebte Tochter Luise
ist plötzlich und unerwartet
von uns gegangen.
Wir vermissen sie sehr“
Ihre Eltern ihr Bruder und Jonas
( © Monika Zelle 27.03.2023 )