Drejby
Sie schaute aus dem Fenster.
Er stand noch da, ihr Bulli, in ihrer Straße.
Jetzt ein Oldtimer, im Besitz ihres Sohnes. Sie sollte ein Auge darauf haben.
Wie viele Reisen hatten ihr Mann, die Kinder und sie mit ihm gemacht, ihrem Bulli.
In alle Herren Länder.
Wie gern wäre sie auch durch diese Länder gefahren. Selbst gefahren.
Aber sie durfte nicht. Angeblich weil sie zu klein war, ihn den Bulli nicht lenken konnte.
Oder weil sie Angst hatte?
Sie würde es ihnen allen zeigen. Jetzt oder nie.
Klamotten und Papiere hatte sie schon eingepackt. Auch ihren grauen Lappen hatte sie nicht vergessen. Meistens wurde an den Grenzen Europas nicht mehr kontrolliert.
Den Weg nach Drejby in Sydals kannte sie auch in und auswendig.
Sie nahm den Bullischlüssel vom Schlüsselbord, schloss gewissenhaft die Wohnungstür ab, und los ging`s.
Zuerst wollte er nicht anspringen, der Bulli, aber nach gutem Zureden klappte es dann doch. Geht doch. Wer sagt`s denn.
Vorbei an den Sexgeschäften der Reeperbahn, rechts in die Holstenstraße, dann die Kieler Straße runter bis zur Autobahnauffahrt zur A7 und dann immer geradeaus, so 220 km,
ca 2 ½ Stunden, dann wäre sie da in Drejby auf Als und konnte sich in die Fluten der Ostsee werfen, nackt, an ihrem Strand, da, wo man über die Brücke auf die Insel Kaegnes fuhr, die Hitlers Helfers Helfer im 2. Weltkrieg gebaut hatten.
Zu der Kassette mit Liedern von Udo Lindenberg schnurrte er über die Autobahn, der Bulli. Sie war glücklich.
„ Bis zum Horizont geht`s weiter, ein neuer Tag“ sang Udo. Ihr Lieblingslied.
Von wegen, sie könne ihn nicht regieren, den Bulli, so ein Quatsch.
Sieben Jahre hatte sie ein eigenes Auto, und konnte auch ziemlich gut fahren.
Bis sie ihren Mann kennenlernte, von da an fuhr er. Zugegeben, es war auch angenehm, sich von ihm durch die Gegend kutschieren zu lassen. Aber es ärgerte sie oft, nicht selbst fahren zu dürfen. In dem Firmenwagen war sie angeblich nicht versichert, und den Bulli konnte sie nicht lenken? Blödsinn!!!
Jetzt war sie kurz vor der dänischen Grenze. Ihr Herz fing ein bisschen an zu stolpern.
Sie war den Nebengrenzweg über Krusa gefahren. Kein Grenzbeamter*Beamtin zu sehen.
Ein Glück. Jetzt eine kleine Pause am Fjordvey bei Anni. Kaffee satt. Wie immer, und den ersten leckeren Hotdog, der beste auf der Welt. Hier aßen alle Dänemarkliebhaber Hotdog mit Blick auf die Ochseninseln. Herrlich.
Inzwischen konnte man mit der EC Karte oder sogar mit dem Euro bezahlen.
Alles easy.
Jetzt war es nur noch ein Katzensprung bis Dreiby und dem Campingplatz an der Steilküste. Und ihr Bulli sprang sogar sofort wieder an. Sie streichelte das Lenkrad.
„ Gut gemacht!“, sagte sie zu dem alten Herrn. 1977 hatte er das Licht der Welt erblickt.
Sie passten gut zusammen. Sie war ja auch eine alte Dame.
Ah da, das Ortsschild von Skovby. Hier würde sie quelque chose bei Brugsen einkaufen.
Etwas essen muss der Mensch.
Gemütlich fuhr sie die Landstraße entlang, vorbei an ihrem Lieblingsgeschäft Brugskunst, immer mit Blick auf die Ostsee.
Jetzt links in die Einfahrt zum Campingplatzt. Ob Herr Sörensen sie wieder so nett empfangen würde wie früher? Nein, er ist längst tot. Er war doch ein paar Jährchen älter als sie.
Als sie die Rezeption betrat, empfing sie ein Mann, der Herrn Sörensen wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.
„ Was möchtest Du?“ fragte er sie.
„ Hättest Du einen Platz für meinen Bulli an der Steilküste mit Blick auf das Meer?“
„ Aber natürlich!“, sagte er freundlich, „ ich kenne doch Euren Bulli, den habe ich als Kind schon hier rumfahren sehen! Und jetzt kommst Du allein? Mutig!“, sagte er.
„ Dann bist Du Herr Sörensen jr?“, das gibt es doch nicht. Er nickte.
„ Sören!“, sagte er.
„ Ina!“, sagte sie.
Er zeigte ihr den schönsten Platz an der Steilküste, mit Blick auf die Ostsee.
Das Vorzelt musste sie nicht aufbauen. Sie war ja allein. Also keine Umstände.
Sie setzte sich vor ihren Bulli, sog genüsslich die frische Ostseeluft ein, und genoss die Sonne. Aber nicht lange.
Barfuß und leicht bekleidet ging sie am Strand entlang zu ihrem Lieblingsnacktbadestrand.
Hier hatte sie zu ihrem Mann gesagt, solle er ihre Asche ins Meer streuen, wenn sie einmal gestorben sei. Auch ihre Kinder kannten diesen Wunsch.
Langsam entkleidete sie sich, und ging ins Meer.
Herrlich. Die Wellen umspülten ihren nackten Körper, das Wasser streichelte ihre Haut. Es gab für sie kein schöneres Gefühl. Und jetzt schwimmen, schwimmen, schwimmen. Ganz weit hinaus.
Immer weiter bis zum Horizont.
( © Monika Zelle 09.05.2023 )