Stamm am Baum
Mein Bruder ist nicht mehr mein Bruder. Das hat viele Gründe.
Mein Wissen über die Familie meiner Eltern reicht nicht so weit zurück.
Mein Cousin Reiner aus dem Klein Clan soll einen Stammbaum väterlicherseits haben.
Müsste ihn anrufen.
Der Großvater meines Vaters hatte ein Buchdruckerei und schrieb Gedichte.
Sein Sohn, mein Großvater war Elektriker und Gewerkschafter.
Meine Großmutter, Bürstenmacherin, soll eine liebenswerte gutmütige Frau gewesen sein. Sie kurte gern in Heringsdorf auf der Insel Usedom.
Alle Kinder hatten einen Beruf erlernt.
Meine Vater war Autoschlosser, im Krieg nicht einen Tag arbeitslos, und nie Soldat.
Ein sehr politischer Mensch und Gewerkschafter durch und durch.
Onkel Ewald auch Autoschlosser, 5 Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, kam fast verhungert nach Hause, sein Sohn Reiner war schon 6 Jahre alt.
Onkel Walter, Schlangenbeschwörer und Sozialpädagoge. Kreuzottern liefen frei in seiner Wohnung herum, ein Eremit.
Onkel Werner, Bürohengst beim Staat. Später schrieb ich ihm, längst schon Ruheständler, Geburtstagsgrüße aus der Personalstelle derselben Behörde, bei der er auch beschäftigt war.
Tante Lotte, meine Bestmutter, meine Lieblingstante, ein Bücherwurm wie ich.
Eine Reisende.
Tante Gertrud konnte aus 50 Pfennige eine Mark machen, sparte sich dadurch ein Haus in der Lüneburger Heide zusammen.
Der Großvater meiner Mutter aus dem Gosch Clan war in Schleswig Mühlenbesitzer und Spieler. Sein Sohn, also mein Großvater, stolzer Besitzer eines Pferdes mit Wagen, Gymnasiast, endete in der Schanzenstraße in einer Schlachterlehre. Ein Musikliebhaber mit einer guten Stimme.
Meine Oma Anna geborene Holtmann, seine sehr unnahbare Frau, zog 6 Kinder groß, die auch alle eine Lehre gemacht hatten.
Onkel Willi. Modelltischler, wanderte 1950 nach Amerika aus, seine Frau Helen leitete eine Bankfiliale in Womelsdorf, Pennsylvania, durch sie lernte ich sehr gut Englisch, weil wir uns Briefe schrieben. Mein Cousin Billy ist heute Mathematikprofessor a.D.
Onkel Paul fuhr Zeit seines Lebens auf dem Tankschiff der Caroline Oetker als Obersteward und Zahlmeister zur See. Die ganze Familie half bei dem Bau seines Hauses in der Lüneburger Heide.
Onkel Heini, Schwimmlehrer im Hessepark in Blankenese, ertränkte immer Katzenjunge in der Regentonne.
Er brachte mir als vierjährige zusammen mit meinem Vater das Schwimmen bei.
Onkel Julius, Judel genannt, lernte Ketelklopper bei Blohm & Voss. Arbeitete später bei Hein Gas, und gewann beim Pferderennen eine größere Summe Geld.
Onkel Friedrich, Fiete genannt, auch Ketelklopper, heiratete die Prostituierte Rosi aus Magdeburg.
Meine Mutter lernte Putzmacherin und besuchte eine Hauswirtschaftsschule. Sie war die perfekteste aller Hausfrauen, das einzige Mädchen unter fünf Brüdern.
Alle Kinder des Gosch Clans, sehr musikalisch, hatten sich alle selbst ein Musikinstrument beigebracht.
All diese Menschen sind schon lange nicht mehr am Leben, aber in meinem Herzen und meiner Erinnerung immer noch sehr präsent.
Meine jetzige Familie besteht aus meinem Mann Joachim aus dem Zelle Clan, meinen beiden schon erwachsenen Kindern Stefan und Simona, und meiner einzigen Enkelin Lea.
Ob mein Bruder noch lebt, weiß ich nicht. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.
( © Monika Zelle 11.05.2021 )