Zum ersten Mal begegnete ich Dir auf meiner täglichen Walkingstrecke in den Wallanlagen, sah Deinen schlanken, schneeweißen Stamm.
Es war Liebe auf den ersten Blick.
Ich spürte das Verlangen, auf Deinen starken Armen hinaufzuklettern, um in Deiner Krone die zierlichen Blätter an den Ästen zu berühren, aber ich wollte Dich nicht mit dem Gewicht meiner schweren Gedanken belasten.
Nun…..da bist Du ja wieder, meine Schöne.
Gedankenverloren lehne ich mich an ihren Stamm, schaue hinauf durch ihre Äste, die sich leicht im Wind wiegen.
Heute höre ich das Rascheln der kleinen Blätter, es ist still in der Stadt, so still wie noch nie.
Wie ausgestorben.
Noch ist er grün, Dein Kopfschmuck, aber bald wird er sich gelb und braun verfärben, Deine Äste verlassen, auf den Boden säuseln, und achtlos von den Fußgängern unter ihren Füßen begraben.
Ich lehne mich mit meinem Rücken an Deinen sonnenbeschienenen Stamm, und spüre die Wärme in mir.
„ Was sagst Du? Ich bin lange nicht da gewesen?“
„ Ja, das stimmt, ich traue mich manchmal nicht, einen längeren Spaziergang zu machen, aus Angst, ich könnte mich mit Corona anstecken!“
„ Du weißt nicht was das ist, meine Schöne?“
Das ist eine Pandemie, an der ich sterben könnte. Das Virus Covid 19 ist aus Wuhan in die Welt gestreut worden, wie Deine Blätter, die vom Sturm manchmal weit hinaus getragen werden, oder Deine Samen, die sich verbreiten, so dass wieder kleine Birkenkinder entstehen, mit dem Unterschied, dass aus dem Virus kein Leben entsteht, sondern er mörderisch sein kann.
„ Ich soll nicht sterben?
So wie die Frauen und Männer auf den Gedenktafeln gegenüber, die im Nationalsozialismus auf dem Innenhof des Untersuchungsgefängnisses als Widerstandskämpfer und Kämpferinnen geköpft wurden?
Ich schaue hinüber.
Es hat sich etwas verändert.
Eine kleine Vase wurde an der Mauer unter den Gedenktafeln angebracht. Es sind aber gar keine Blumen darin.
„ Nein, keine Sorge, meine Schöne, ich werde mich schon nicht anstecken!“
Ich trage immer brav meine Maske. Sei froh, dass Du so etwas nicht tragen musst, Du würdest oft keine Luft zum Atmen haben.
Ich werde zwar nicht so alt werden wie Du, aber ein bisschen wirst Du meine Anwesenheit noch aushalten müssen auf dieser Erde.
Ich drehe mich um, und schlinge meine Arme um den weißen Stamm.
Ob sie wohl zugeschaut hat, als die Greueltaten in diesem Hof passierten, oder waren die Mauern noch höher, als sie eine zarte junge Birke war?
Ja, Mauern müssen sein, damit niemand sieht, was hinter ihnen passiert, so wie die Mauern in den Köpfen der Menschen, die hier achtlos vorüber gehen.
Bäume können ja nicht sprechen.
Oder doch?
Meine Birke kann sprechen.
Sie flüstert mir zu, ich solle sie nicht wieder so lange alleine lassen.
Sie bräuchte meine Wärme und Nähe, sonst fühle sie sich so einsam.
Ich drücke sie noch einmal ganz fest an mich, und verspreche, ganz bald wieder zu kommen, und Blumen für die Vase bringe ich auch mit.
Ich löse meine Arme von ihrem warmen Stamm, schaue noch einmal auf die Gedenktafeln, falte meine Hände, und bete zum lieben Gott, dass solche Widerwärtigkeiten wie im Dritten Reich nie wieder passieren sollen, nehme kurz meine Maske ab, senke mein Haupt, hebe es wieder gen Himmel.
Bestimmt schaut mein Vater jetzt von Wolke 7 herunter, und schüttelt mit dem Kopf. Wir glauben nämlich eigentlich nicht an Gott.
Ich winke meiner Schönen noch einmal zu. Ihre Äste winken zurück.
Zu Hause höre ich in den Nachrichten, dass ein junger Mann einen jüdischen Studenten vor einer Synagoge in Hamburg mit einem Spaten niedergeschlagen hat.
Wehret den Anfängen.
( © Monika Zelle 06.10.2020 )
Die Birke
Eines Dichters Traumgerank
Mag sich feiner nicht verzweigen
Leichter nicht dem Winde neigen
Edler nicht ins Blaue steigen
Zärtlich, jung und überschlank
Lässest du die lichten, langen
Zweige mit verhaltnem Bangen
Jedem Hauche regbar hangen
Also wiegend leis und schwank
Willst du mir mit deinen feinen
Schauern einer zärtlich reinen
Jugendliebe Gleichnis scheinen.
( Hermann Hesse)