Budenzauber
Papa will für Mama auf unserem Heidegrundstück eine neue Hütte bauen.
Die alte ist zu klein geworden.
Höchstens 10 Quadratmeter groß.
Platz ist in der kleinsten Hütte sagt Papa immer.
Mit seinen fünf Geschwistern und Anhang haben sie hier viele fröhliche Stunden verbracht.
Aber nun, seit sie das Grundstück von Onkel Werner mit dem Geld von Onkel Paul, Mamas Bruder, gekauft haben, möchte Mama eine eigene Hütte haben.
Die kleine bleibt natürlich stehen, für Besuch.
Papa und Onkel Ewald stehen sinnierend auf dem Platz, wo der erste Spatenstich gemacht werden soll.
Hier, wo die Birke steht, muss es irgendwo gewesen sein.
Das Grundstück wurde 1930 von den Geschwistern erworben.
Am 10. Mai 1933 hat eine Studentenschaft auf dem Opernplatz in Berlin, als die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernommen hatten, die Bücher von namenhaften Schriftstellern, wie Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Stefan Zweig, Bertholt Brecht, Erich Maria Remarque, und vielen vielen anderen verbotenen Autoren verbrannt.
Eine Studentenschaft.
Das muss man sich mal vorstellen. Doch eigentlich gebildete Menschen? Sollte man meinen.
Hatten sie kein Unrechtsbewusstsein, nein, Heil Hitler.
Wo jüdische Geschäfte geplündert, und Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt und gedemütigt, später sogar vergast werden, gibt es kein Unrechtsbewusstsein.
Ja, und Papa hat damals schon gesagt:
„ Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man bald auch Menschen.“
Und diese Bücher von genau den genannten Autoren haben die Brüder auf unserem Heidegrundstück eben an dieser Stelle bei der Birke in einer Eisenkiste vergraben.
1933?
Ja 1933.
Oder vielleicht schon früher, weil Papa etwas geahnt hat?
Onkel Ewald und Papa fangen an zu graben, an verschiedenen Stellen um die Birke herum. Nichts. Keine Eisenkiste.
Aber nach 30 Jahren, ist da nicht so eine Kiste samt Büchern verwittert?
Sie graben den ganzen Tag.
Dann errichten sie Mamas Hütte.
Vierzehn Quadratmeter.
Auch nicht groß.
Schlafe ich vielleicht jetzt auf Büchern von meinen Lieblingsschriftstellern?
Lesen bildet hat Papa immer gesagt.
Und was ist mit dem Unrechtsbewusstsein?
In der heutigen Zeit, wo Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken, die Meere an Plastikmüll ersticken, die Pole abschmelzen, Eisbären keinen Lebensraum mehr haben, Massentierhaltung unterstützen, und jetzt noch Corona?
Ich habe das Gefühl, die Menschen werden immer rücksichtsloser.
Und wer liest denn heutzutage noch Bücher, und was liest der Mensch?
Und das Heidegrundstück ist auch weg, einschließlich der Hütten.
Verkauft.
Einfach verkauft.
Von meinem Bruder.
Unrechtsbewusstsein?
Fehlanzeige.
( © Monika Zelle 16.06.2020 )