Weihnachten 1949

Mit einem Sack Kohlen auf dem Rücken astete Bruno schwer atmend die Holzstiege zu der Wohnung hoch, die er mit seiner Frau Anne und den beiden Kindern in zwei kleinen Zimmern und einer winzigen Küche in Vierlanden an der Elbe hinter dem Deich

bewohnte. 

Anne öffnete ihm die Tür. 

Sie strahlte ihn mit ihren großen blauen Augen an, als sie den kleinen Weihnachtsbaum unter seinem rechten Arm entdeckte, legte den linken Zeigefinger auf ihre Lippen, und deutete auf die Wohnzimmertür, die am heiligen Abend stets verschlossen war.

Flink öffnete sie die Tür, Bruno schlüpfte hinein und stellte das Bäumchen auf eine kleine Holzkiste. 

Dann erst nahm er den Duft aus der Küche wahr.

Er schaute seine Frau fragend an.

„ Es riecht nach Geflügel, Anne! Was hast Du dort leckeres im Ofen?“

„ Ich habe das Kleid für Heike Petersen heute Morgen noch fertig genäht, dafür habe ich eine Gans bekommen.“

Bruno lief das Wasser im Mund zusammen. Eine Gans.

In diesen Zeiten.

Wegen der Hungersnot in Hamburg mussten sie nach Kriegsende mit ihrem zwölfjährigen Sohn, und ihrer gerade mal 4 Wochen alten Tochter aufs Land ziehen.

Großzügig waren die Bauersleute gerade nicht den Städtern gegenüber.

Anne nähte und strickte für sie, und bekam dafür Naturalien.

Warm hatten sie es immer.

Bruno hatte als Autoschlosser eine Stelle bei den Hamburger Gaswerken angetreten.

Ein Glücksfall.

Kohlen gab es umsonst.

Mit flinken Händen schmückte Anne das Bäumchen mit den selbstgebastelten Weihnachtskugeln von Tante Karla.

Auch für Kerzen war gesorgt. 

„ Du hast ja sogar einen Kuchen gebacken, wie herrlich, Anne!“

Leise hörte man das Murmeln der Kinder aus der Schlafstube.

Reinhard spielte mit seiner kleinen Schwester Monika, und passte auf, dass sie nicht in die Wohnstube lief.

Jetzt musste sie mal.

Reinhard nahm sie bei der Hand, lief mit ihr die Holzstiege hinunter, raus in die Kälte, um das strohgedeckte Bauernhaus herum, die schneebedeckte glatte Treppe hinunter zum Plumpsklo.

Der eisige Wind schnitt in ihre Gesichter.

Zitternd setzte er Monika aufs Klo.

Es musste schnell gehen, sonst wäre sie wohl mit ihrem kleinen Popo auf der Holzkante festgefroren, so wie die Finger von Anne, wenn sie draußen die Wäsche auf die Leine hängte.

Heike Petersen hatte eine warme Waschküche mit allem Drum und Dran, aber die durfte Anne nicht benutzen.

Schnell wieder zurück in die warme Wohnung.

Dann war es soweit. Das Weihnachtsglöckchen klingelte.

Bescherung.

Endlich durften Monika und Reinhard in die Stube.

So hatten die Eltern die Augen ihrer beiden Kinder lange nicht strahlen sehen.

Reinhard staunte über den festlich gedeckten Tisch.

Dann kamen Tante Anni und Onkel Hubert zu Besuch.

Zwei große Pakete legte Onkel Hubert unter den Baum.

Geschenke!

Aufgeregt packten die Kinder sie aus.

Für Monika ein selbstgebasteltes Puppenkarussell aus Holz, für Reinhard ein Wagenrad für seine Seifenkiste, die er mit seinem Vater baute.

Er wollte an einem Seifenkistenrennen in Hamburg am Venusberg teilnehmen.

Dann wurde gegessen.

Bruno hatte sogar eine Flasche Wein organisiert.

Satt und zufrieden saßen alle um den Tisch herum.

Die Kinder schliefen schon, als sich die Erwachsenen noch lange über die Gräueltaten dieses unsinnigen Krieges unterhielten, der ihre Seelen tief verletzt hatte.

Dennoch.

Dankbar schaute Tante Anni ihren Freund Bruno an.

Er hatte ihr als russische Jüdin das Leben gerettet.

( Monika Zelle 29. Oktober 2019 )

Fast beringter Ritterling

Das Telefon klingelte. 

Sie nahm den Hörer ab, und sagte:“ Hallo?“

Es blieb still in der Leitung.

Sie sagte noch einmal:“ Hallo, wer ist denn da.

„ Ja, ähm hier ist Dein Bruder!“

Ihr fiel fast der Telefonhörer aus der Hand.

Sie glaubte nicht, was sie da hörte.

Hatte er ihr nicht vor Jahren durch einen Anwalt verbieten lassen, ihr zu schreiben?

„ Was willst Du!“, schrie sie.

„ Ich möchte mich mit Dir versöhnen!“

„ Was? Habe ich richtig gehört? Versöhnen?

„ Ja.“

Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Sollte das die Gelegenheit sein, sich endlich an ihm zu rächen?

Wie lange war sie nicht in ihrer geliebten Heide gewesen.

In ihrer zweiten Heimat, in der sie 60 Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Wo sie jeden Weg und Steg kannte.

Auf dem Land ihrer Väter.

Er hatte es einfach verkauft, ohne sie zu informieren.

Wut und Hass stiegen in ihr hoch.

Und jetzt, jetzt wollte er sie wiedersehen?

Warum?

Ja, sie würde sich mit ihm treffen, und dann würde sie ihm zeigen, wer den längeren Arm hat.

„ Bist Du noch dran?“, Lästerschwein?

Das hatte er schon zu ihr gesagt, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war.

Lästerschwein.

Schwesterlein sollte das eigentlich heißen.

Schon damals hatte sie ihn dafür gehasst.

„ Ja, ich bin noch dran!“

Schweigen.

Sie würde sich mit ihm treffen, und dann würde sie all ihre Wut aus sich herauslassen, ihm mit dem schärfsten Küchenmesser, dass sie besaß, erstechen.

Aber vorher würde sie ihn demütigen.

Auf die Knie sollte er vor ihr gehen, und um Gnade bitten.

Andererseits, schoss es ihr durch den Kopf, würde sie wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteil werden.

Aber was war schon lebenslang?

Wer weiß, wie lange sie noch hatte.

Auch er war alt.

Lohnte sich das alles überhaupt noch.

Sie könnte sein Land und sein Haus erben.

Sich endlich das holen, was ihr eigentlich zustand.

„ Bist Du noch dran, Lästerschwein, warum sagst Du nichts?

Triffst Du Dich jetzt mit mir oder nicht?“

Es müsste ja auch kein Blutvergießen werden, dachte sie.

Er aß doch so gerne Goulasch mit Pilzen.

Ja , genau, sie könnte sich mit ihm bei ihrer Kusine in der Heide treffen, mit ihr zusammen das Goulasch kochen. Mit Pilzen kannten sie sich ja beide aus, ihre Cousine und sie.

Aber die Menge. Wie viele Pilze müssten es sein, damit er elendig daran zu Grunde ging.

Sie würde den Fastberingten Ritterling wählen, der war dem Steinpilz am ähnlichsten.

Und was, wenn bei der Obduktion der Grund seines Ablebens herauskam. Dann war sie geliefert.

 Sie könnte aber auch ihre Cousine beschuldigen, sie war doch die Kräuterhexe.

„ Nun sag schon, Lästerschwein, wo wollen wir uns treffen?“

Sie legte den Hörer auf.

( © Monika Zelle 05.11.2019 )

Bickbeeren

Laut ratterte der Tempo den Heideweg ins Dorf hinunter.

Miriam mit ihrer Mutter in Decken gehüllte hinten drauf.

Es ging wieder zurück in die laute Stadt.

Sechs Wochen Ferien in der Heide ade.

Miriam weinte. 

Jetzt hatten sie das Dorf Holm-Seppensen verlassen, und die Landstraße in Richtung Buchholz erreicht.

Ruhig und sicher steuerte ihr Vater das Gefährt, neben ihm Onkel Ewald sein Bruder.

Wälder und Felder flogen vorbei.

Sie fuhren durch das kleine Städtchen Buchholz, dort erledigten sie in den Ferien die größeren Einkäufe. 

Bald waren sie in Harburg angekommen, hatten bei Tante Bude angehalten, und ein Eis gegessen. 

Wie immer.

Jetzt tuckerte der Tempo den Hamburger Berg hinunter, über die Elbbrücken Richtung Hamburg.

Auf dem Hinweg in die Heide schaffte er es kaum.

Manchmal mussten sie ihn anschieben.

Da die Süderelbe.

Ab hier waren schon die 5 Kirchtürme ihrer Heimatstadt in Sicht.

Die Norderelbe.

Ach, sie liebte es ja doch, ihr Hamburg.

Als sie zu Hause ankamen, ging Miriam sofort Schlafen.

Bevor sie einschlief, schaute sie noch einmal auf das Bild über ihrem Bett.

Das Büsenbachtal.

Die rauschenden Wipfel der Kiefern.

Sie dachte an die Wanderungen mit Onkel Ewald, den Pausen beim Milchmann, leckere frische Milch von der hauseigenen Kuh.

Und dann das Leberwurstbrötchen.

Fußballspielen mit den Freunden und Papa.

Papa, der den Kindern Schiffe aus Borke schnitzte, die sie dann auf dem Büsenbach fahren ließen.

Kienäppel sammeln für den Bullerofen, auf dem die leckeren Blaubeerpfannkuchen brutzelten. 

Bickbeersammeln im Wald.

50 Pfennige das Pfund bekam sie vom Grünhöker.

Körbeweise hatte sie die Bickbeeren zu seinem Wagen getragen.

20 DM Taschengeld.

Sie hörte das Klopfen des Buntspechtes am Baum, um das Nest für die Jungen zu bereiten.

Den Schrei des Eichelhähers, wenn Gefahr in Verzug war.

Sah in der Dämmerstunde die Rehe am Waldessaum. 

Ihre Mutter kam zum Gute Nachtsagen.

Sie sang ihr das Lied „ Im schönsten Wiesengrunde vor“.

Miriam weinte wieder.

„ Nun höre endlich auf zu weinen! Es nützt doch nichts.

Denke lieber an Deine Schule morgen, es gibt noch viel zu lernen!“

Miriam dachte lieber an das Taschengeld.

Was würde sie sich in der Stadt dafür kaufen?

Oder sollte sie es sparen?

Morgen würde sie mal zu Karstadt gehen.

( Monika Zelle 22. Oktober 2019 )