Mit einem Sack Kohlen auf dem Rücken astete Bruno schwer atmend die Holzstiege zu der Wohnung hoch, die er mit seiner Frau Anne und den beiden Kindern in zwei kleinen Zimmern und einer winzigen Küche in Vierlanden an der Elbe hinter dem Deich
bewohnte.
Anne öffnete ihm die Tür.
Sie strahlte ihn mit ihren großen blauen Augen an, als sie den kleinen Weihnachtsbaum unter seinem rechten Arm entdeckte, legte den linken Zeigefinger auf ihre Lippen, und deutete auf die Wohnzimmertür, die am heiligen Abend stets verschlossen war.
Flink öffnete sie die Tür, Bruno schlüpfte hinein und stellte das Bäumchen auf eine kleine Holzkiste.
Dann erst nahm er den Duft aus der Küche wahr.
Er schaute seine Frau fragend an.
„ Es riecht nach Geflügel, Anne! Was hast Du dort leckeres im Ofen?“
„ Ich habe das Kleid für Heike Petersen heute Morgen noch fertig genäht, dafür habe ich eine Gans bekommen.“
Bruno lief das Wasser im Mund zusammen. Eine Gans.
In diesen Zeiten.
Wegen der Hungersnot in Hamburg mussten sie nach Kriegsende mit ihrem zwölfjährigen Sohn, und ihrer gerade mal 4 Wochen alten Tochter aufs Land ziehen.
Großzügig waren die Bauersleute gerade nicht den Städtern gegenüber.
Anne nähte und strickte für sie, und bekam dafür Naturalien.
Warm hatten sie es immer.
Bruno hatte als Autoschlosser eine Stelle bei den Hamburger Gaswerken angetreten.
Ein Glücksfall.
Kohlen gab es umsonst.
Mit flinken Händen schmückte Anne das Bäumchen mit den selbstgebastelten Weihnachtskugeln von Tante Karla.
Auch für Kerzen war gesorgt.
„ Du hast ja sogar einen Kuchen gebacken, wie herrlich, Anne!“
Leise hörte man das Murmeln der Kinder aus der Schlafstube.
Reinhard spielte mit seiner kleinen Schwester Monika, und passte auf, dass sie nicht in die Wohnstube lief.
Jetzt musste sie mal.
Reinhard nahm sie bei der Hand, lief mit ihr die Holzstiege hinunter, raus in die Kälte, um das strohgedeckte Bauernhaus herum, die schneebedeckte glatte Treppe hinunter zum Plumpsklo.
Der eisige Wind schnitt in ihre Gesichter.
Zitternd setzte er Monika aufs Klo.
Es musste schnell gehen, sonst wäre sie wohl mit ihrem kleinen Popo auf der Holzkante festgefroren, so wie die Finger von Anne, wenn sie draußen die Wäsche auf die Leine hängte.
Heike Petersen hatte eine warme Waschküche mit allem Drum und Dran, aber die durfte Anne nicht benutzen.
Schnell wieder zurück in die warme Wohnung.
Dann war es soweit. Das Weihnachtsglöckchen klingelte.
Bescherung.
Endlich durften Monika und Reinhard in die Stube.
So hatten die Eltern die Augen ihrer beiden Kinder lange nicht strahlen sehen.
Reinhard staunte über den festlich gedeckten Tisch.
Dann kamen Tante Anni und Onkel Hubert zu Besuch.
Zwei große Pakete legte Onkel Hubert unter den Baum.
Geschenke!
Aufgeregt packten die Kinder sie aus.
Für Monika ein selbstgebasteltes Puppenkarussell aus Holz, für Reinhard ein Wagenrad für seine Seifenkiste, die er mit seinem Vater baute.
Er wollte an einem Seifenkistenrennen in Hamburg am Venusberg teilnehmen.
Dann wurde gegessen.
Bruno hatte sogar eine Flasche Wein organisiert.
Satt und zufrieden saßen alle um den Tisch herum.
Die Kinder schliefen schon, als sich die Erwachsenen noch lange über die Gräueltaten dieses unsinnigen Krieges unterhielten, der ihre Seelen tief verletzt hatte.
Dennoch.
Dankbar schaute Tante Anni ihren Freund Bruno an.
Er hatte ihr als russische Jüdin das Leben gerettet.
( Monika Zelle 29. Oktober 2019 )