Wolf
Verträumt schaute Miriam aus dem Fenster ihres Zimmers in der 3. Etage der Mietwohnung ihrer Eltern auf die Nissenhütten.
Sie waren nach dem 2. Weltkrieg als Notbehelf für die Flüchtlinge aufgebaut worden.
Weiße Bettlaken flatterten auf den Wäscheleinen vor den Hütten im Wind.
Spielen durfte Miriam mit den „ Schmuddelkindern“ nicht.
„ Die haben Läuse“, meinte ihre Mutter.
Auf dem Gelände der Nissenhütten gab es eine Kneippe, in der nicht nur gezecht wurde, nein, hier gab es die leckerste Leberwurst zu kaufen, die sie jemals gegessen hatte.
„ Miriam, geh einmal rüber zum goldenen Anker, und kaufe ein ¼ Pfund von der Kalbsleberwurst!“ sagte ihre Mutter.
Sie erschrak zutiefst, als sie diese Worte vernahm.
Vor der Kneippe wachte ein Schäferhund an der Kette, der jeden Besucher mit einem wütenden Kläffen begrüßte.
Es nützte nichts, ihre Mutter war unerbittlich.
Als Miriam bei der Kneippe ankam, war der Hund nicht zu sehen.
Schnell huschte sie durch die Tür in den Schankraum.
Der Raum war entsetzlich verraucht.
Ihre Augen tränten.
Langsam ging sie an den Tischen mit den johlenden Männern vorbei zum Tresen.
Und da lag er, der Schäferhund.
Wolf.
Bellte sie an, fletschte die Zähne von einem furchterregenden Knurren begleitet.
Mit zitternder Stimme bestellte Miriam das ¼ Pfund Leberwurst bei dem Wirt.
Bezahlte, und wollte den Schankraum wieder verlassen.
Der Hund ließ sie nicht aus den Augen.
Er war auf dem Sprung.
Seine Lefzen trieften.
Als sie die Tür öffnete, um hinauszugehen, hörte sie nur noch den Wirt rufen:
„ Wolf! Hierher!“
Doch der Hund war schneller.
Durch die geöffnete Tür schoss er nach Draußen.
Miriam lief mit der Leberwurst davon.
Der Hund hinter ihr her.
Vor lauter Angst drehte sie sich um, und warf dem Hund die in Butterbrotpapier eingewickelte Leberwurst vor die Vorderläufe, und lief so schnell sie konnte nach Hause.
Ihre Mutter fluchte, das Geld war knapp.
Der Holzlöffel hielt den Schlägen auf ihrem Rücken nicht stand.
Nach einiger Zeit sollte sie wieder die Leberwurst besorgen.
Miriam weigerte sich unter Tränen.
Es half nichts.
Schon von weitem sah sie den Hund an seiner Kette liegen.
Diesmal musste sie die Wurst nach Hause bringen.
Doch sie traute sich nicht an dem Hund vorbei, und lief zurück nach Hause.
Wutentbrannt ging ihre Mutter selber zum Goldenen Anker.
An Wolf vorbei, rein in den Schankraum, raus mit der Leberwurst in der Hand.
Der Hund kläffte wie verrückt, seine Augen sprühten Gift und Galle.
Er fletschte die scharfen Zähne und sprang an meiner Mutter hoch, riss ihr das Wurstpaket aus der Hand, und biss ihr kräftig in den Daumen.
Fluchend und blutend kam sie zu Hause an.
Der Daumen musste genäht werden.
Einige Tage später war Wolf verschwunden.
Das Geschäft mit der Leberwurst boomte.
( © Monika Zelle 15. Oktober 2019 )