Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde

 

Mein Urgroßvater besaß eine prächtige Mühle bei Schleswig an der Schlei, inmitten der hügeligen Landschaft Schleswig Holsteins.

Neben der Mühle, ein großes Gutshaus und ein Gestüt.

Die Knechte und Mägde sorgten dafür, dass alle Arbeiten reibungslos getan wurden.

Meine Urgroßmutter freute sich über die Köchin und mein Großvater über die Kinderfrau, die er über alle Maßen liebte.

Vor dem Gutshaus stand eine riesige Linde, davor eine Bank, auf der mein Großvater gerne träumte.

Mit seinem Pferd und dem Wagen fuhr mein Großvater jeden Tag über eine von Platanen gesäumte Allee in die Schule.

Die Kinderfrau winkte ihm hinterher, lang noch konnte sie seine weißblonden Haare sehen.

Mein Großvater war sehr begabt. Er besuchte das Gymnasium in Schleswig, und sang im Chor.

 

Mein Urgroßvater ging nach getaner Arbeit jeden Abend in den Dorfkrug.

Dort spielte er Karten mit den Bauern der Umgebung, die alle ihr Korn bei ihm mahlen ließen.

Meiner Urgroßmutter gefiel das gar nicht.

„Das gehört zum Geschäft“, sagte er dann nur.

Meine Urgroßmutter wurde immer schmaler.

Eines Tages stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür.

Mein Urgroßvater hatte Haus und Hof verspielt.

Bald darauf verstarben meine Urgroßeltern.

Haus und Hof kamen unter den Hammer, mein Großvater zu seinem Onkel in die Schlachterlehre nach Hamburg.

Ihm wurde jedes mal schlecht, wenn er die Schweinehälften vom Haken nehmen und zerteilen musste, und das Blut an seiner weißen Gummischürze herunter rann.

Mein Großvater war so unglücklich, wie nie in seinem Leben. Er war 14 Jahr alt.

Die Musik von Mozart und Bach liebte er sehr.

Er wollte doch sein Abitur machen, und Musik studieren.

Nun wohnte er bei seinem Onkel, einem grobschlächtigen Mann, in einer kleinen Kammer, die nur zwei mal drei Meter zählte, und auch im Winter nicht beheizt wurde.

Er, der verwöhnte Junge, mit einem riesigen Zimmer in einem Gutshaus mit einer riesengroßen Linde davor.

Ach ja, die Linde.

Wenn mein Großvater seinen Kummer nicht mehr aushielt, wanderte er durch die Straßen von Hamburg, und sang mit seiner klaren Stimme:

„ Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde

Vor meinem Vaterhaus steht eine Bank

Und wenn ich sie einst wiederfinde

Dann bleibe ich ein leben lang“.

Wie oft hat meine Mutter mir dieses Lied vorgesungen.

Ich liebe es genau so sehr, wie mein Großvater es einst liebte.

 

 

( © Monika Zelle 20.11.2018 )

 

 

 

 

 

 

 

Seifenkistenrennen

Seifenkistenrennen

Der Geruch von Schmieröl gehörte zu unserem Leben wie die Luft zum Atmen.

Wir waren eine Schrauberfamilie wie sie im Buche stand.

Alle Männer hatten den Beruf des Autoschlossers erlernt.

Fahrbare Untersätze waren ihre Leidenschaft.

Ich sehe meine Mutter noch an der Ruffel die Blaumänner waschen.

Und dann gewann mein Bruder 1950 mit 14 Jahren das Seifenkistenrennen am Venusberg in Hamburg.

Wochenlang hatte mein Vater mit ihm zusammen die Seifenkiste gebaut, aus Errsatzteilen, die er aus Restbeständen von seiner Arbeit mitgebracht hatte.

Und nun stand mein Bruder da, strahlend, einen Lorbeerkranz um den Hals, ein junger Mann, dem das Leben zu Füßen lag.

Er war mein Held.

Ich war gerade mal drei Jahre alt, schaute auf zu meinem Bruder, der mich oft am Kopf packte, und sagte:

„ Willst Du mal den Hamburger Michel sehen?“

Der 1. Preis war ein Luftgewehr, das mein Bruder sofort gegen ein Kofferradio eintauschte.

Waffen waren in unserer Familie verpönt.

Dann trat auch er eine Lehre als Autoschlosser bei Opel Lausse in Rahlstedt an.

Der Geruch von Schmieröl wurde stärker.

Zur bestandenen Gesellenprüfung bekam mein Bruder ein Moped von meinen Eltern geschenkt.

Von nun an versäumte ich es nicht, vor unserer Haustür zu stehen, um ihm zuzuschauen, wie er mit seinem Freund Kalle Schnoor um die Ecken sauste, und Wettrennen veranstaltete.

Später hatten dann beide eine NSU.

Ein einziges Mal durfte ich bei Kalle hinten drauf mitfahren.

Kalle war Boxer und im Milleu zu Hause.

Seine kleine Schwester Gerhild war meine Freundin.

Meine Eltern verboten später den Umgang.

Als mein Bruder sich einen Porsche kaufte, obwohl er schon eine Familie mit zwei Kindern hatte, durfte ich ein Einziges mal mit ihm durch den Freihafen fahren.

Ich war glücklich.

Der Porsche musste dann aber stantepe einer Familienkutsche weichen.

Zusammen mit unserem Nachbarn Ferdinand Koch, einem Taxenkutscher, wollten mein Vater und mein Bruder eine Tankstelle mit dazugehöriger Werkstatt kaufen, und sich selbständig machen, doch ihnen fehlte der Mut, und die Unterstützung der Frauen.

Mein Sohn wäre sehr gerne in die Fußstapfen seines Onkels getreten.

Davon konnte ich ihn erfolgreich abhalten.

Von einem Motorrad nicht.

Jetzt fährt er damit den Venusberg hinunter, von dem ich nur einige Schritte entfernt wohne, den Michel stets im Blick.

Die Bilder meines Bruders mit seiner Seifenkiste und dem Lorbeerkranz hängen in unseren Räumen, der Duft von Schmieröl auch.

 

( © Monika Zelle 30.10. 2018 )

 

Kostgänger

 

Günther Wolff, ein angeheirateter Cousin, kam jeden Tag in seiner Mittagspause zu uns zum Mittagessen, warum auch immer.

Meine Mutter bereitete ein vorzügliches Mal, und es gab sogar Kaffee und Kuchen zum Nachtisch.

Günther Wolff, ein außergewöhnlicher Möbeltischlermeister, selbständig, der seinesgleichen suchte.

Er baute für mich einen Klappschreibtisch, mit einer roten resopalbeschichteten Platte, und einem hellblauen Rand, den er aus Platzgründen an die Wand meines schmalen Zimmers schraubte.

Ich fand ihn toll. Den Schreibtisch natürlich.

Dazu baute er mir einen rotgepolsterten Wiegehocker. Sehr hübsch.

Der Hocker.

Nach dem opulenten Essen schaute ich meistens aus unserem Fenster in der dritten Etage unseres Mietshausen den Fußballspielen auf dem Sportplatz zu.

Günther Wolff stellte sich dann mit seiner zweiten Tasse Kaffee in der rechten Hand ziemlich dicht hinter mich, so, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spürte.

Den Geruch von Holzleim in meiner Nase.

Freundschaftlich legte er seine freie linke Hand auf meine linke Schulter.

Weil ich frech zu ihm wurde, meinte meine Mutter, ob ich nicht netter zu ihm sein könne.

War es wegen des Schreibtisches?

Oder des Hockers?

Günther Wolff war 20 Jahre älter als ich.

Und, ich hatte einen Freund.

Dieter.

Dieter war 2 Jahre jünger als ich.

Ich glaube, meine Mutter war etwas verliebt in Günther Wolff.

Sie war 15 Jahre älter als er.

Sollte ich mal mit meinem Vater reden?

Nach dem Fußballspiel setzte ich mich an meinen neuen Schreibtisch und übte Maschineschreiben und Stenografie.

Ich besuchte eine Berufsfachschule.

Günther Wolff war dann wieder in seine Werkstatt abgetaucht, die keine fünf Minuten von uns entfernt lag.

Eines Tages stand er wieder dicht neben mir am Fenster, und kam mir mit seinem Gesicht ziemlich nahe.

Ich verpasste ihm eine Ohrfeige.

Von nun an schmeckte das Essen nicht mehr so gut.

 

 

( © Monika Zelle 6.11.2018 )