Sehnsuchtsort

 

Das Dorf erwacht.

Noch höre ich das bunte Treiben im Hintergrund.

Händler wuseln um mich herum.

Feilschen.

Eine Frau, tief verschleiert, reicht mir einen heißen, starken, süßen Tee.

Ich genieße ihn in vollen Zügen.

Das Schnaufen der Kamele küsst meine Ohren.

Die Wärme, Balsam für meine müden Knochen.

Ich habe hoffentlich an alles gedacht.

Wichtig, der warme Schlafsack für die extrem kalten Nächte.

Und, genug zum Trinken.

Allein.

Endlich allein.

Weit erstreckt sich ein Meer ohne Wasser vor mir aus.

Sandwellen auf hohen Dünen.

Soweit das Auge reicht.

Mein Sehnsuchtsort.

Lange hege ich diesen Traum.

Und nun ist er wahr.

Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen.

Nur das ewige Heulen des Windes umfängt mich.

Einsamkeit.

Ich denke an zu Hause.

Viele halten mich für verrückt, diese, meine Reise anzutreten.

Allein.

Ich traue mich.

Was soll schon passieren.

Am späten Nachmittag würde ich die Oase erreichen.

Mein Kompass lässt mich nicht im Stich.

Dort bin ich mit Berbern verabredet.

Sie werden mich weiter begleiten.

Schwer lastet das Gepäck auf meinen Schultern.

Nach einer Stunde Wanderung, eine Pause.

Meine nackten Füße graben sich in den heißen Sand.

Über mir, ein endloser, fahlblauer Himmel.

Nirgendwo ein Mensch.

Nur Stille und Weite.

Meine Seele wünscht sich in diese Wüste.

Mein Kopf hat nichts dagegen.

Weiter geht`s.

Ich kraxele über Felsen und Geröll.

Von einem Hochplateau aus erblicke ich das Flussbett des Draa, das sich durch meine Oase schlängeln soll.

Weit und breit keine Oase zu sehen.

Ich wandere auf die andere Seite.

Nichts.

Hat sich mein Kompass geirrt?

Oder habe ich ihn, wie so oft, nicht richtig gedeutet?

Ich steige von dem Plateau herunter an das Flussbett.

Es fängt an zu dämmern.

In welche Richtung soll ich jetzt gehen?

Schnell wird es dunkel.

Angst überfällt mich.

Es bleibt mir nichts anderes übrig.

Ich muss die Nacht in der Wüste verbringen.

Mein Schlafsack wärmt mich.

Der Sternenhimmel über mir entschädigt mich für alles…….

 

( © Monika Zelle 26.01.2016 )

Schatzsuche

Der Weg schlängelt sich drei Kilometer vom Dorf durch den Bauernwald zum Grundstück.

Noch einmal will sie das Unmögliche versuchen, dass der Familie seit Jahren unter den Nägeln brennt.

Sie zieht die lang entbehrte würzige Luft tief in ihre Lungen.

Es hat aufgehört zu regnen.

Die Sonne drängt durch die Wolken, entzieht dem Boden die Feuchtigkeit.

Er dampft.

Riecht nach Moos.

Sie genießt jeden Schritt auf dem weichen Waldboden.

Wie oft ist sie in den 1960iger Jahren diesen unebenen Weg entlang geradelt, jede Baumwurzel im Blick, die sie zu Fall bringen könnte.

Jetzt erreicht sie die neu angepflanzte Schonung, die ihr einen weiten Blick zum Waldessaum erlaubt.

Eine Ricke mit ihrem Kitz äst in der Sonne, sie lässt das Kitz und die Umgebung nicht aus den Augen.

Ein Ast knackt unter ihren Füßen.

Blitzschnell verschwindet die Ricke mit dem Kitz im Unterholz.

Sie erreicht das Grundstück.

Mühelos lässt sich das Gartentor öffnen.

Sie schließt die Hütte auf, öffnet die Fenster, lässt die wärmende Sonne und die laue Luft in den Raum.

Nach einem Grundstücksplan ihres Vaters, schreitet sie jeden Meter des Areals ab.

Hier hat er die Stelle eingezeichnet, an der er und seine Brüder 1933 eine eiserne Kiste mit Büchern vergraben haben.

Sie tritt den Spaten in die Erde.

Schweiß rinnt von ihrer Stirn.

Ein Meter tief soll die Kiste vergraben sein.

Und da.

Der Spaten trifft auf etwas Hartes.

Verbissen schaufelt sie die Kiste frei.

Sie hat die Bücherkiste gefunden.

Ein Nachbar hilft ihr, die schwere Last aus dem Erdloch, einem ehemaligen Kühlfach, zu heben.

Mit einer Eisenstange hebeln sie das Schloss auf.

Der Nachbar lässt sie mit ihrem neu gewonnenen Schatz alleine.

Einen Augenblick verpustet sie sich auf der Holztreppe der Hütte und blinzelt in die Sonne.

Dann beäugt sie den Inhalt.

Die Bücher scheinen unbeschadet.

Sie riechen modrig.

Jedes einzelne Buch nimmt sie wie ein rohes Ei in die Hand, und streichelt den Einband.

„ Papa, ich hoffe, Du siehst von Oben, dass ich die Kiste gefunden habe, nach der ihr schon so oft gegraben habt.

Tucholsky, Kästner, Hesse, Brecht, und wie sie alle heißen.

Geschändete und Geächtete kehren in mein Bücherregal zurück, finden ihren Platz, und bleiben so der Nachwelt erhalten.

 

( © Monika Zelle 31.01.2010 )

1953

 

Ich liebte es, im Zittergras zu liegen.

Meinen Träumen nachzuhängen.

Die Wipfel der Kiefern auf unserem Heideland spendeten mir Schatten, und versprühten ihren Duft.

Aus unserem schmucken Holzhaus roch es nach Königsberger Klopsen.

Gleich würde es Mittagessen geben.

Schritte auf dem Weg.

Ich richtete mich auf und sah, dass mein Vater mit einem Topf in den Händen zur Pforte lief.

Wo ging er hin?

Die Neugier ließ mich nicht los.

Ich folgte ihm.

Ich sah, wie er am Ende des Weges auf einem verwilderten Grundstück verschwand.

Was wollte er dort?

Mit dem Topf.

Ich schlich hinterher, und versteckte mich im Dickicht.

Mein Vater reichte den Topf einer ihm entgegen gestreckten Hand.

Als er wieder nach Hause ging, näherte ich mich der geheimnisvollen Stelle.

In einem Kellerloch sah ich ein sehr verschmutztes Fenster, mit Spinnweben verdeckt.

Hinter dem Fenster ein Holztisch, davor zwei Stühle.

Auf dem Tisch zwei Teller, und Besteck.

War da nicht eben ein Schatten?

Ich kniete mich hin, und beuge mich tief hinunter, entfernte die Spinnweben, um näher an das Fenster zu kommen.

Nichts zu sehen.

Plötzlich hörte ich leise jiddische Gesänge einer Frau.

Sie hatte eine wunderschöne tiefe Stimme.

Ich kannte das Lied.

Meine Eltern haben es oft gesungen.

Ich richtete mich wieder auf.

Junge Birken hatten sich auf dem grasbedeckten Dach über der unterirdischen Wohnung selbst gesät.

Jeden Tag folgte ich meinem Vater nun.

Dann entdeckte er mich.

Traurig schaute er mich an.

Dann sagte er:

„ Hier wohnen Herr und Frau Winterberg, sie verstecken sich, weil sie denken, dass der Verrückte noch immer an der Macht ist, und sein Unwesen treibt.

„ Der Verrückte?, fragte ich, „ wer ist das?“

„ Na, dieser Hitler!“

Du darfst es niemandem verraten, dass die Leute sich hier verstecken.

Ich versprach es.

Von nun an begleitete ich meinen Vater jeden Tag, bekam die Winterbergs aber nicht zu Gesicht.

Sie hatten Angst.

Auch vor mir.

Sie haben ihre Kellerwohnung nie wieder verlassen.

 

( copyright Monika Zelle 09. Oktober 2017)

 

 

 

Wasser

Wasser

 

Wasser umspült meine Sinne

Ich beginne zu träumen

Von

Unterwasserbäumen

 

Wasser

Mein Lebenselixir

Ich komme von Dir

Gehe zu Dir

 

Nur in Dir will ich sein

In Dir will ich leben

Nur Du kannst Leben geben

 

Auch wenn ich nicht mehr bin

In Dir liegt meine Seele verborgen

In Dir wird immer wieder Morgen

 

( © Monika Zelle 21. April 2016 )

Meine Puppe Helga

Meine Puppe Helga

 

Nie hätte ich für möglich gehalten, dass meine beste Freundin Margrit zu einer so abscheulichen Tat fähig gewesen wäre.

Wir waren wirklich beste Freundinnen, teilten Freud und Leid miteinander.

Margrit war zwei Jahre jünger als ich.

Unsere Mütter waren zur selben Zeit schwanger.

Wir sollten beide ein Geschwisterchen bekommen, und freuten uns wie die Schneeköniginnen.

Von nun an spielten unsere Puppen die Hauptrolle.

Meine Puppe Helga, schokoladenbraun, große schwarze Augen, krause Haare, trug ein rot-weiß-gepunktetes Dirndl, mit wunderschönen Trachtenknöpfen, dazu eine giftgrüne Schürze, von meine Mutter selbst genäht, auch die Puppe.

Margrits Puppe hieß Franziska.

Sie trug ein langes buntgeblümtes Kleid mit Puffärmeln von der Stange.

Täglich trafen wir uns nun, steckten unsere Puppen unter die Pullover, und spielten Babykriegen, trugen die Puppen unter dem Herzen, wie unsere Mütter die Geschwisterchen.

Meine Puppe Helga wurde zuerst geboren, dann kam Franziska.

Wir stillten sie wie im richtigen Leben.

Gewickelt wurden sie mit den großen, frisch gebügelten Stofftaschentüchern meines Vaters.

Dann war es soweit.

Meine Mutter brachte an einem warmen, sonnigen Sonntag im Mai meine Schwester Gabriela zur Welt.

Sie war rund und gesund.

Das Geschwisterchen von Margrit ließ noch ein paar Tage auf sich warten.

Ein kleiner Robert.

Zu klein.

Nach ein paar weiteren Tagen verließ er uns wieder, für immer.

Margrit und ich trugen den Schmerz gemeinsam.

Ihre Puppe Franziska schrie unaufhörlich, während Helga friedlich in meinen Armen schlief.

Franziska schrie so heftig, bis sie keine Luft mehr bekam, und auch von uns gehen musste.

Als der kleine Robert beerdigt wurde, legten wir Franziska zu ihm.

Eines Tages fragte Margrit mich, ob ich ihr meine Puppe Helga mal ausleihen würde.

Eigentlich mochte sie keine Negerpuppen1.

Ich tat es.

Natürlich.

So vergingen einige Tage.

Margrit ließ sich immer etwas anderes einfallen, um meine Puppe noch behalten zu können.

Einmal schlief sie gerade, dann wurde sie gebadet.

Ich durfte nicht zuschauen, und bekam meine Puppe auch nicht zu Gesicht.

Du hast doch dein Schwesterchen, meinte Margrit.

Meine Sehnsucht wurde immer größer. Ich liebte Helga sehr.

Eines Tages lag meine Puppe auf unserer Fußmatte.

Nackt, völlig zerstochen, das Stroh quoll aus ihr heraus, der Kopf abgerissen.

Auf einem Zettel stand:

„Jetzt kannst du das Negerlein2zurück nach Afrika schicken, wo es hingehört, Du hast ja jetzt ein weißes Geschwisterchen!“

Zärtlich nahm meine Mutter mich in den Arm.

Sie nähte mir eine neue Puppe, die genau so aussah wie meine Puppe Helga, mit einem rot-weiß-gepunkteten Dirndl, einer giftgrünen Schürze und wunderschönen Trachtenknöpfen.

Aber es war eben nicht meine Puppe Helga.

 

( copyright Monika Zelle 17. Oktober 2017 )