Die Marmel
Ich sitze in einem mondänen Wiener Cafe nahe der spanischen Hofreitschule. Ich hasse solche Cafes mit ihren meist versnobten Gästen, die denken, sie seien etwas Besseres. Meine Mutter ging oft mit mir ins Gustav Adolf in die Großen Bleichen, um mich in die bessere Gesellschaft einzuführen, und mir gute Manieren beizubringen. Später erfuhr ich, dass dort in der Küche die Mäuse auf den Tischen tanzten. Ich gehe nur in dieses Wiener Cafe wegen der Sachertorte, dem Einspänner und Andre Heller. Meistens sitzt er gleich links neben der Drehtür in einem Plüschsessel, vertieft in seine Tageszeitung. Heute ist er nicht gekommen.
Schade.
Schade ist auch, dass er nicht mehr mit Erica Pluhar zusammen ist.
Mir schräg gegenüber sitzt ein Kind. Vermutlich mit seiner Mutter. Weinrotes Samtkleid, weißer Spitzenkragen. Ganz gerade sitzt es da, genau wie ich sitzen musste im Gustav Adolf, als hätte ich einen Stock im Rücken.
Bestimmt soll es noch zu den Lipizzanern gehen. Ich schaue das Kind lange an, mit seinen schwarzen Locken. Mit der linken Hand stochert es in seinem Kuchen, trinkt manchmal kleine Schlucke von dem Kakao mit Sahnehäubchen.
Oh, ein Stück von dem Kuchen ist von der Gabel auf der weißen Tischdecke gelandet. Das Kind schaut ängstlich, erst zu seiner Mutter
dann
verstohlen
zu mir herüber.
Große grüne Augen schauen mich an.
Ein Puppengesicht. Blass.
Die Mundwinkel verziehen sich nach unten.
Es will doch nicht etwa weinen?
Doch nicht wegen der Torte auf der Tischdecke.
Nein.
Ich versuche zu lächeln.
Aufmerksam schaut es mich an, nimmt die Kuchengabel, schiebt das Stückchen von der Tischdecke mit dem rechten Daumen auf die Gabel, und befördert es wieder auf den Teller.
Zustimmend nicke ich.
Daumen hoch.
Jetzt lacht es über das ganze süße Kindergesicht.
Das Kind schiebt seine Hand in die Tasche des Samtkleidchens, und hält plötzlich eine bunte Glaskugel vor sein Auge.
In Hamburg sagt Murmel oder Marmel dazu.
Schaut wieder in meine Richtung.
Ein Auge geschlossen, ein Auge an der Marmel.
Ganz konzentriert.
Wie es mich wohl jetzt sieht?
Jetzt nimmt es die bunte Kugel wieder in die Hand, rutscht von seinem Platz, und kommt langsam auf mich zu.
„ Hier!“, sagt es, und schiebt mir die Marmel in meine Hand, bleibt noch kurz stehen, und läuft dann flink wieder zu seinem Platz, mit seinen kleinen Füßen in weißen Söckchen und Lackschuhen, die genau zum Kleidchen passen.
Es strahlt.
Ich strahle zurück, halte die bunte Marmel vor mein Auge, und sehe die manchmal so triste Welt durch Kinderaugen.
( copyright Monika Zelle 12. Oktober 2016)